Die Altstadt von Dubrovnik, vom Berg Srdj aus gesehen. © Karl Kaser
»Die Massen und der Lärm drängen die Leute hinaus. Das Leben ist zum Albtraum geworden«, berichtet Marc van Bloemen2, den ich vor rund zwanzig Jahren kennengelernt habe, als ich mich für die Dauer eines Forschungsfreisemesters in der Altstadt von Dubrovnik einquartierte. Er selbst ist Sohn eines Ehepaars mit britisch-holländischen Wurzeln, das noch zu Titos Zeiten von London nach Dubrovnik ausgewandert war, um ein gutgehendes Kaffeehaus gegen ein Leben in einem sozialistischen Land zu tauschen. Marc spricht aus, was sich so manche seiner noch in der Dubrovniker Altstadt verbliebenen Mitbewohnerinnen und -bewohner denken. Geschätzte 800 sind es noch, dreimal mehr dürften es vor einem Vierteljahrhundert gewesen sein. Sie verknüpfen den seit der Jahrtausendwende rasant ansteigenden Tourismus mit sinkender Lebensqualität, höheren Preisen sowie Arealen und Restaurants, die sie sich nicht mehr leisten können, und manche von ihnen überlegen, in die Neustadtbereiche an der Peripherie der historisch gewachsenen Stadt zu ziehen.
Grund dafür sind vor allem die TouristInnenschwärme, die üblicherweise mehrmals, während der Hochsaison vielmals täglich, über die Stadt herfallen. Es sind die Kreuzfahrtschiffe des Mittelmeers, die sie entladen und etwa nach drei Stunden vom Landbesuch zur Weiterfahrt zurückholen. Sie kommen aus zwei Richtungen über die beiden Häfen der Stadt, wobei der alte insofern ein neuralgischer Punkt ist, als er unmittelbar an die Altstadt grenzt, und mischen sich mit den TouristInnen, die auf anderen Wegen in die Stadt gekommen sind. Die Aufnahmekapazitäten werden dadurch an vielen Tagen im Jahr überschritten. Aufgrund der Staus, die die Massen verursachen, ist ein geordneter Tagesablauf nur mehr in den Monaten von November bis März möglich. Die BewohnerInnen informieren sich mittlerweile über die fix montierten Kameras des lokalen Fernsehsenders über die jeweils aktuelle Stausituation, bevor sie das Haus verlassen, um Erledigungen zu tätigen. Es ist daher keine Übertreibung zu behaupten, dass sich die Stadt in einem modernen Kreuzerrhythmus befindet, der auf ihre in Stein gegossene Geschichte des 17. Jahrhunderts keine Rücksicht nimmt.
In meinem Beitrag möchte ich an einem folgenreichen Beschluss der Dubrovniker Stadtverwaltung anknüpfen, die Stadtmauern und Stadttore entgegen dem europäischen Trend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht weitgehend zu schleifen, um Areale für die Stadterweiterung zu öffnen, sondern zu erhalten. Damit wurde die Musealisierung der Altstadt eingeleitet, die im Zeitalter des Massentourismus ein gutes Jahrhundert später enorme Probleme aufwirft. Es kann hier nicht darum gehen, diese Problemlage eingehend und in allen ihren ökonomischen und ökologischen Aspekten zu analysieren, sondern ich möchte auf den Funktionswandel einer hochrangigen und selbstbewussten europäischen Hafen- und Handelsstadt hinweisen, die sich heute mit ihrer in Stein gegossenen Geschichte dem Massentourismus feilbietet. Dazu wird es notwendig sein, zuerst den historischen Kontext aufzubauen und im Hauptabschnitt auf die Dynamiken einzugehen, die die touristische Verwertung in Richtung Polyrhythmik einer mediterranen Stadt ausgelöst hat, die die Eigenrhythmik auszulöschen droht.
Historischer Kontext
Dubrovnik steht insofern repräsentativ für die Geschichte Dalmatiens, als seine Geschichte wie die von Bar, Budva, Kotor, Šibenik, Split oder Zadar auf die römische Zeit oder zumindest in das Frühmittelalter zurückreichende Wurzeln aufweist, und wie diese vom 14. bis zum 16. Jahrhundert den Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erreichte. Dubrovnik war jedoch insofern anders, als es bis in das 18. Jahrhundert mächtiger als die anderen, von der adriatischen Hegemonialmacht Venedig unabhängig war und Konsulate in allen europäischen Städten unterhielt, die für seine Seefahrt und Handelstätigkeit von Bedeutung waren. Das sich daraus speisende Selbstbewusstsein widerspiegelt sich in Dubrovniks Bauplan und Architektur wider: der Altstadthafen, der die Grundlage für den ökonomischen Aufstieg des Stadtstaats bedeutete; ein einen Steinwurf entfernter Palast, der als Zollamtsgebäude Teil der Dubrovniker Geldmaschine war; einen weiteren Steinwurf entfernt der Rektorenpalast, der für politische Macht und eine republikanische Ordnung stand, und direkt an das Zollamtsgebäude anschließend der Sponza-Palast, der ein Archiv beherbergt, dessen Dokumente auf eine gut geölte Zivil- und Justizverwaltung über viele Jahrhunderte hinweg verweisen und die wechselhaften politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der ungeheuer reichen Stadt in Erinnerung rufen; eine katholische Kathedrale, deren architektonische Machtsymbolik keinen Zweifel über die Inhaber der spirituellen Macht ließ und ein öffentlicher Raum, dessen Struktur mitunter an römische Grundlagen erinnert, in Wahrheit jedoch venezianisch geprägt ist.
Dies alles hat ein weit ausgedehntes Handelsnetz, das den Hafen mit dem balkanischen Hinterland, mit dem Schwarzen Meer und der Ägäis verband und die primäre Einkommensquelle der Dubrovniker adeligen Unternehmer darstellte, ermöglicht. Als ab dem frühen 15. Jahrhundert das Osmanische Reich im Zuge seiner territorialen Ausbreitung an die unmittelbare Stadtgrenze der Handelsstadt heranrückte, musste sie zwar einen erheblichen jährlichen Tribut an Istanbul leisten, sicherte sich dadurch jedoch den Zugang zum riesigen und somit lukrativen osmanischen Markt.
Während in den obengenannten kleineren dalmatinischen Städten ein Markuslöwe, der Macht, Frieden und Freiheit demonstriert, noch heute Stadtmauern, Tore und öffentliche Gebäude dekoriert, ist Dubrovnik frei von diesem Machtsymbol Venedigs. Stattdessen dominiert eine Heiligenfigur mit einer goldenen Bischofsmitra die Stadttore, die öffentlichen Gebäude und viele Kirchen – das Bildnis des heiligen Blasius. Dieser uns unbekannte Heilige aus frühbyzantinischer Zeit beschützt anstatt des Markuslöwen die Stadt. Im Jahr 1358 entzog sie sich der Hegemonie Venedigs und verteidigte in den folgenden viereinhalb Jahrhunderten ihre Unabhängigkeit mit viel Umsicht und diplomatischem Geschick. 1797 zerstörte allerdings die französische Revolutionsarmee die Macht Venedigs und ein Jahrzehnt später (1808) jene Dubrovniks. Wenige Jahre später (1815) sollten Habsburgertruppen die Stadt und ihr Hinterland besetzen.
Generationen von Menschen haben sich und ihren Rhythmus3 nicht nur in Dubrovnik, sondern im gesamten urbanen Dalmatien entlang der für die venezianische Kultur spezifische Gestaltung des öffentlichen Raums orientiert und ihm wiederholt neue Bedeutung verliehen. Seit dem Mittelalter haben sich die ökonomischen Bedingungen wie auch die sozialen Strukturen und Beziehungen der BewohnerInnen fundamental verändert. Der Raumplan ist aus ökonomischen und praktischen Gründen völlig nach dem Stadthafen und dem Meer ausgerichtet. Dort, wo früher die eigenen Handelsschiffe ankamen, die Ware entladen wurde und die Schiffsbesatzungen eventuell in den noch heute Lazareti genannten Gebäuden eine Quarantäne abzusitzen hatten, sind heute kleine Fischer- und Freizeitboote vertäut. Noch heute betritt man vom Hafen aus die Stadt an den Orten der damaligen (wie heutigen) politischen Macht. Näherte man sich der Stadt hingegen vom Land aus, betrat man sie durch das am anderen Ende situierte Stadttor. Dem Meer und dem Handel vermag die Stadt direkt heute kaum mehr etwas abzuringen; die Haupthandelsrouten wurden bereits im 16. Jahrhundert infolge der ›Entdeckung‹ anderer Kontinente aus dem unmittelbaren Einflussbereich Dubrovniks wegverlegt, und der Fischfang lohnt sich kaum noch; der Fischmarkt im alten Hafen wurde bereits vor Jahren aufgelöst. Indirekt lebt die Stadt vom Meer noch immer ganz gut, wenn wir an die zahlreichen Männer denken, die der Personen- und Frachtschifffahrt auf den Weltmeeren gutes Geld als Kapitäne, Offiziere oder Schiffsingenieure verdienen oder an die rund eine Million TouristInnen, die die Stadt jährlich hauptsächlich auf einem kurzen Landaufenthalt von Ihrem Kreuzschiff aus kennenlernen.
Während der 450 Jahre als eigenständige Republik hat sich ein unvergleichbarer urbaner Text und Rhythmus sowie ein kollektives historisches und kulturelles Gedächtnis eingeschrieben, das sich hauptsächlich aus den Kapiteln Freiheit (libertas), Hl. Blasius, Diplomatie, Reichtum durch Handel, Adelsherrschaft, Stadtmauern und reichhaltige Kultur zusammensetzt. Von einigen Ausnahmen abgesehen, wurde die architektonische Entwicklung Dubrovniks nach einem gewaltigen Erdbeben im Jahr 1667, das einen Großteil der Stadt in Schutt und Asche legte, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Zuge des Wiederaufbaus abgeschlossen.
Das nach dem Erdbeben wiederaufgebaute Dubrovnik © Karl Kaser
Die größte Bedrohung für das historische Ensemble Dubrovniks stellte die sozialistische Stadtverwaltung in Titos Jugoslawien dar, als die Stadtverwaltung ernsthaft in Erwägung zog, die Altstadt dem Erdboden gleichzumachen und stattdessen einen völlig neuen Stadtkern hochzuziehen, der sozialistischen städtebaulichen Vorstellungen entsprach. Eine andere Variante wäre gewesen, die architektonische Struktur und die Gebäude zu belassen, die Bevölkerung abzusiedeln und die Geisterstadt als reines Museum zu führen. Beides wäre ideologisch ohne Weiteres legitimiert gewesen, da die Stadt durch ihr geschlossenes Ensemble aus dem 17. Jahrhundert an die damalige Adelsmacht erinnerte, die man nicht unbedingt neu mit Leben erfüllen wollte. Schließlich setzte sich die pragmatischste Variante durch, nämlich die Menschen in ihren alten Häusern zu belassen, dafür jedoch Neustadtareale zu errichten, die ausreichend attraktiv waren, um Menschen für eine freiwillige Übersiedlung von der Alt- in die Neustadt zu gewinnen. Der zweite Teil des Planes sollte schließlich in ungeahnter Weise aufgehen, da nämlich dieser Wechsel von alt auf neu zwar massiv einsetzte – allerdings erst in der postsozialistischer Zeit der Stadt durch die jugoslawisch-montenegrinische Armee im Winter 1991/92, der dadurch angerichtete erhebliche Schaden und die darauffolgenden Reparaturarbeiten hingegen haben die architektonische Struktur der Stadt kaum verändert.
Rhythmen einer in Stein geronnenen Geschichte
Die Attraktivität Dubrovniks besteht in seiner in Stein geronnenen Geschichte. Der städtische Text, d.h. der Text, den die Stadt aus sich heraus erzählt, wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geschaffen und eingefroren – und somit auch ein bestimmter Rhythmus, der sich jedoch niemals festzurren ließ, sondern sich immer wieder neu anzupassen wusste. Wie bereits erwähnt, erlebten die Stadt und das gesamte Territorium der Republik ihren ökonomischen Zenit bereits vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, insbesondere jedoch im 15. und 16. Jahrhundert. Ab dem 17. Jahrhundert wurde die Konkurrenz der transatlantischen Schifffahrt und des damit verbundenen Handels massiv spürbar.4 Nach dem von der französischen Armee herbeigeführten Untergang der Republik und der letztlichen Integration in das Habsburgerreich begann die frühere ökonomische Grundlage langsam, aber sicher zu schwinden. Dem Adel blieben als Einkommensquellen die Ausbeutung seiner Landgüter hauptsächlich in der Region Konavlje südlich der Stadt sowie der Schiffsbau. Allerdings war nicht nur die politische und ökonomische Elite zu einer Reorientierung gezwungen, sondern nach der Entmachtung des Adels infolge der 1848er-Revolution auch die freigelassenen Bauern, deren Güter mit ihren kargen Böden nicht ausreichend eintrugen. Es kann hier nicht darum gehen, den einzelnen ökonomischen Umstellungen, die Auswanderungswellen bis zum Ersten Weltkrieg inklusive, nachzugehen, ich möchte lediglich den Tourismus aufgreifen, der, bereits im 19. Jahrhundert einsetzend, bis zum beginnenden 21. Jahrhundert zu einem Identitätswandel der Stadtbevölkerung führte – eine stolze Stadt, die es gewohnt war zu herrschen, die seinem um vieles größeren Nachbarn, dem Osmanischen Reich (aber auch anderen Garantiemächten wie Spanien), jährlich riesige Summen zu bezahlen imstande war, um seine Unabhängigkeit abzusichern. Diese stolze Stadt sank über einige Etappen zu einem, wenn auch sehr attraktiven Dienstleistungsanbieter in der europäischen Tourismusindustrie ab.
Tourismus
Europäische Ärzte und Wissenschaftler waren ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts von der Heilkraft der Meeresluft und des kalten Meereswassers überzeugt. So setzte um 1750 ein, wenn auch noch zaghaftes Interesse für gesund erscheinende Küstenorte ein.5 Von einem richtiggehendem Adriatourismus kann jedoch erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rede sein, als Eisenbahnlinien eine Verbindung, wie etwa die österreichische Südbahn, zwischen Binnen- und Küstenstädten herzustellen imstande waren. Aufgrund der geologischen Gegebenheiten war es schwierig, Dalmatien mit dem Landesinneren zu verbinden. Über das herzegowinische Neretvatal wurde allerdings eine Eisenbahnverbindung über Sarajevo mit dem Binnenland möglich, die langsam, aber doch den Dalmatien- und Dubrovniktourismus ansteigen ließ. In der Zwischenkriegszeit stieg die Zahl der Dubrovnikbesucher und -besucherinnen von ca. 23.000 (1925) auf 58.000 (1938) an, 80% davon kamen aus dem Ausland. Der wahre Aufstieg Dubrovniks als Tourismusmagnet setzte allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, als die Zahl der Nächtigungen von ca. 78.000 (1946) auf beinahe sechs Millionen im Jahr 1985 sprang.6 Der Tourismus bildete nun den führenden Wirtschaftsfaktor in der Region.
Der Zusammenbruch Jugoslawiens, die Kämpfe um das von jugoslawisch-montenegrinischen Truppen belagerte Dubrovnik und die Bombardierung der Stadt brachten den Tourismus in den 1990er-Jahren allerdings völlig zum Stillstand, und der Flughafen musste gesperrt werden. Solcherart stark zurückgeworfen, setzten die Verantwortlichen um die Jahrtausendwende auf einen bescheidenen Wiederbeginn mit einem sanften Tourismus weg von der standardisierenden Massenindustrie. Dieser internationale Trend bzw. das darauf aufbauende Konzept setzte darauf, die Einwohner und Einwohnerinnen und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen, eine gewisse historische Nostalgie zu befriedigen und kulturelles Erbe in den Vordergrund zu rücken. Nicht länger das Meer, Sand und Sonne sollten die Entscheidung für die Wahl einer Urlaubsdestination bestimmen, sondern das Angebot von Kultur und Natur; Kulturtouristinnen und -touristen, die selbst das zu entdecken wünschten, was andere vor ihnen bereits entdeckt hatten, nämlich eine ideale und scheinbar verlorengegangene Vergangenheit. Diese sollte in einer Form vermarktet werden, die allgemein akzeptabel war und keine Konflikte hervorrief. Voraussetzung waren Investitionen in fantastische Museen, die mit einem naturnahen Angebot in Einklang standen.7
Das Überzeugende an diesem Konzept war, dass Dubrovnik dies alles bereits aufzuweisen hatte und großartige Investitionen nicht mehr notwendig waren. Wo sonst gab es ein Dubrovnik vergleichbares ›Museum‹, in dem Menschen derartig realistisch lebten und arbeiteten? Sein reiches kulturelles Erbe war offensichtlich und sollte nicht von Verwerfungen der Gegenwart überschattet werden. Da die Stadt zumindest für TouristInnen nicht mit dem Krieg von 1991/92 in Zusammenhang gebracht werden wollte, wurden zwar Tafeln an den beiden Stadttoren angebracht, die auf die Schäden, die der Stadt durch den Beschuss zugefügt worden waren, hinwiesen, aber ansonsten wurden beschädigte Dächer und andere Kriegswunden, auch unter maßgeblicher internationaler Unterstützung, rasch wieder beseitigt. Die gewöhnlichen TouristInnen aus West und Ost würden die ›Balkankriege‹ ohnedies nicht verstehen. So war Dubrovnik eine gute und solide Zukunft als eine kulturtouristische Destination vorgezeichnet; der Mangel an Sandstränden sollte sich nicht als störend auswirken.
Dies war in Einklang mit der Einsicht, dass es nicht mehr das Meer war, das Wohlstand schuf, sondern die kontinentalen Tourismusströme, die sich der »Perle der Adria«8 erfreuen wollten, zumal noch in den 1990er-Jahren etwa 80 Prozent der europäischen Touristen und Touristinnen aus Zentral-, West- und Nordeuropa gestammt hatten. Dies führte zur, wie es scheint, definitiven Neuorientierung weg vom Meer und hin zum Kontinent. Dies war jedoch leichter gesagt als getan, denn der naheliegendste Teil des Kontinents war der Balkan, von dem sich das offizielle Kroatien in den 1990er-Jahren mit einer gewissen Überheblichkeit abwandte, da der Kriegsgegner Serbien mit dem Balkan gleichgesetzt, Kroatien hingegen als ein zivilisiertes mediterranes oder zentraleuropäisches Land apostrophiert wurde. Verglichen mit dem Balkan war jedoch Zentraleuropa geografisch weit entfernt. So betrug etwa die damalige Straßendistanz zwischen Graz und Dubrovnik ca. 750 Kilometer, zu Bosnien-Herzegowina hingegen lediglich zehn und zu Montenegro rund 40 Kilometer; die albanische Hauptstadt Tirana konnte mit dem Auto deutlich schneller erreicht werden als die eigene Hauptstadt Zagreb.
Mit dieser Entscheidung zur touristischen und räumlichen Umorientierung hatte Dubrovnik einen weiteren Schritt in Richtung eines Kompromisses mit seiner Geschichte und eines identitären Rhythmuswechsels zu gehen. Die einlangenden Touristen und Touristinnen verlangten eine andere Behandlung als die einlangenden Güter im 15., 16. oder 17. Jahrhundert, die letztendlich mit Gewinn weiterverkauft werden konnten. Die gebaute Stadt des 17. Jahrhunderts, die lange Zeit Ausdruck von Macht und Wohlstand seiner adeligen Elite war, wurde zu einem visuellen Medium umgedeutet, das als materielle Grundlage für möglichst viele ihrer Bewohnerinnen und Bewohner diente. Viele Hafenstädte der mediterranen Nordhälfte haben ähnliche Kompromisse einzugehen, aber wahrscheinlich nirgendwo ist die Differenz zwischen historischem Stadtsinn und seiner aktuellen Ausbeutung so stark ausgeprägt wie im Falle Dubrovniks.
Um die Jahrtausendwende war allerdings noch nicht abzusehen, dass immer weitere Kreise der etwa 40.000 auch außerhalb der Altstadt lebenden Bewohner und Bewohnerinnen in diese Dynamik touristischer Expansion hineingezogen werden würden. Seit etwa der Jahrtausendwende setzte eine touristische Monokultur ein. Touristen und Touristinnen begannen in Massen Räume zu besetzen, die zuvor noch von Einheimischen genutzt werden konnten und nun für sie nicht mehr attraktiv oder erschwinglich waren. Die sozioökonomische Aufteilung der Stadt zwischen Touristen und Touristinnen einerseits und im Tourismussektor Beschäftigten andererseits wird immer schärfer sichtbar. Dies hat zu einer Fragmentierung der Stadt und zu einer Marginalisierung der lokal ansässigen Bevölkerung und saisonalen Arbeitskräften geführt, die nun aus der Altstadt hinaus- und in die Neustadt bzw. an deren Ränder hineingedrängt werden, da die Wohnungspreise in den touristischen Arealen von den Einheimischen nicht mehr bezahlt werden können. Darüber hinaus wird noch eine dritte Bevölkerungsgruppe marginalisiert, nämlich die der Studierenden, die sich entweder in den Neustadträndern eine billige Unterkunft suchen oder sich in Universitätsnähe in den Monaten der Zwischensaison einquartieren müssen. Wenn diese Trends andauern, werden sich Fragmentierung und Segregation weiter verschärfen und der Altstadtexodus anhalten.9
Das Hauptproblem stellen die Kreuzfahrtschiffe dar, die Dubrovnik in Massen anzieht. Der Kreuzfahrttourismus genießt weltweit Attraktivität und weist nach wie vor beträchtliche jährliche Wachstumsraten auf. Die Zahl der jährlich Kreuzfahrtreisenden stieg von zwei Millionen (frühe 1980er-Jahre) auf 19 Millionen (2010). Die Mega-Kreuzer haben mehr als 2000 Leute an Bord, halten sich im jeweiligen Hafen nur kurz auf, bieten an Bord alle Annehmlichkeiten (inklusive Essen und Getränke) und begrenzen eine Tour vielfach auf drei bis sieben Tage; 85% der Kreuzerreisen finden in den Monaten von Mai bis Oktober statt. Auf ihren kurzen Landausflügen konsumieren sie kaum und hinterlassen viel Müll.10
Gegenwärtig – die Auswirkungen der Corona-Krise sind noch nicht abzusehen – erlebt Dubrovnik weitere jährliche Steigerungsraten im Tourismusbereich und scheint ein paradoxes Opfer seiner eigenen Popularität als UNESCO Weltkulturerbe und als Drehort für die populäre Fernsehserie Games of Thrones zu werden. Die Stadt scheint in einem rasch zunehmenden Maß an einem Zuviel im Sinne einer Übertourismus-Dystopie zu leiden.11
Dazu kommen noch als wichtige Negativeffekte der Kreuzfahrtindustrie die vollkommen überlaufenen touristischen Attraktionen, die den Landtourismus negativ beeinflussen, und die Auswirkungen auf den Lebensstandard. Im Jahr 2011 wurde ein Forschungsprojekt durchgeführt, das die Haltung und Meinung der lokalen Bevölkerung über den Kreuzfahrttourismus einholte. Die Antworten waren kritisch bis relativ unkritisch, je nachdem, ob Befragte in der Altstadt oder relativ weit entfernt im Neustadtbereich lebten. Nur 10% der (350) Befragten – allerdings 38% derjenigen, die noch in der Altstadt lebten – zeigten sich unzufrieden und waren der Meinung, die Kreuzer würden der Stadt nur Probleme bringen, ein Viertel hatte keine Meinung zu den negativen Auswirkungen, beinahe 50% waren der Meinung, dass diese Art von TouristInnen schlechte KonsumentInnen seien, 88% hingegen wünschten sich eine bessere Organisation der schubweise ankommenden Gäste; sie sollten auf Exkursionen geschickt und verstärkt auch während der Wintersaison kommen. Nur wenige waren der Meinung, dass man vom Kreuzertourismus auf Qualitätstourismus übergehen sollte (12%), zwei Drittel waren der Meinung, dass eine gut organisierte Kombination aus beiden optimal wäre.12
Polyrhythmien einer mediterranen Stadt
Wenn wir den historischen Text der Dubrovniker Altstadt als in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eingefroren und seine aktuelle Nutzung zu Beginn des 21. Jahrhunderts als nützliche Integration seiner Geschichte verstehen, so haben wir es also mit Zeichen, Wahrnehmungen und Lesarten dieses historischen Textes zu tun. Wenn wir dem französischen Philosophen und ›Stadtrhythmiker‹ Henri Lefebvre13 folgen, werden Zeichen im öffentlichen Raum von Stadtplanern, öffentlichen Bauträgern und in der Vergangenheit auch von privaten Sponsoren gesetzt. Daher ist es beispielsweise auch relativ einfach zu eruieren, in welcher Epoche am meisten Ressourcen für städtebauliche Projekte zur Verfügung standen,14 in unserem Fall in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Auf der Wahrnehmungsebene wird der ›gefrorene‹ Text ganz offensichtlich primär durch den Umstand charakterisiert, dass die hohen und mächtigen Stadtmauern die Integration der Altstadt in den urbanen Gesamtraum verhinderten. Der Respekt der Stadtplaner des 19. und 20. Jahrhunderts vor den Stadtmauern verhinderte in Hinblick auf den urbanen Gesamtraum in erster Linie zwei Dinge: 1) die Zerstörung eines geschlossenen urbanen Areals und 2) die Bewegungsbeschleunigung der Stadt.15 Die großteils engen und steilen Straßen sowie die Nadelöhre der beiden Stadttore im Süden und Norden unterdrücken jegliches Tempo, das nicht dem menschlichen Körper entspricht – ausgenommen vielleicht die Kinder auf ihren Fahrrädern.
Die Altstadt Dubrovniks bewirkt somit ein Tempolimit und eine Rhythmustaktung, die dem urbanen Raum der frühen Neuzeit entsprechen. Über die Jahrhunderte hinweg haben sich jedoch damit Hand in Hand gehend Regelungen und ungeschriebene Gesetze eingestellt, die das Betreten und Meiden sowie die Bedeutungszuschreibung von Orten anlangt. Wenn man mit ihm nicht aufgewachsen ist, lässt sich dieses Regelwerk nur mühsam erlernen. Manches wird durch längere Beobachtung entschlüsselbar, allerdings sollte man sich dafür in den Wintermonaten in der Stadt aufhalten. Der allergrößte Teil der städtischen Sommerbevölkerung ist mit diesem Regelwerk nicht vertraut und hat auch nicht die Absicht, dieses kennenzulernen – es handelt sich dabei um die Lebensader der Stadt, die Tourismusströme.
An diesem Punkt ist es wieder sinnvoll, auf Lefebvre, diesmal auf seine Polyrhythmen einer mediterranen Stadt zurückzukommen, die in einer Stadt wie Dubrovnik, die wie ein riesiges Theater mit Bühne und Publikumsrängen gebaut ist und wo der öffentliche Ort sich von selbst theatralisiert, besonders sichtbar werden. Auf Venedig schielend stellt er zwei Rhythmen fest, den der Eigenen und den der Anderen. Zweiterer scheint zwar zu überwiegen, könne jedoch den traditionellen und gewohnten Gebrauch der öffentlichen Orte nicht verdrängen oder gar ausrotten. Der Tourismus könne die Theatralizität der mediterranen Stadt nicht ersticken, im Gegenteil, er verstärke sie sogar.16
Während Zeichen und Wahrnehmung einen ›gefrorenen‹ Text konstituieren, ist das dritte Element auf die Stadt zu schauen, die jeweilige Lesart, dynamisch. Auf dieser Ebene verstehen wir den urbanen Raum als imaginiert, seine Repräsentationen werden in der Gegenwart hergestellt und die jeweilige Lesart wird von unserem Wissen, unserer Ideologie und Geschichte, vom Umstand, ob wir in einer Stadt leben oder sie nur besuchen, bestimmt und ist für Modifikationen offen.17
Solche Modifikationen werden auch deshalb möglich, weil, wie wiederholt unterstrichen, die Stadt nicht mit einer einzigen Stimme, sondern mit verschiedenen Stimmen spricht,18 dass eine Stadt also wie ein literarischer Text offen ist für so viele Interpretationen, wie es Leser und Leserinnen gibt, und dass die Stadt ein komplexes textliches Gewebe repräsentiert, das unterschiedlich gelesen werden kann.19 Den Text der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Stein gegossenen Geschichte lese ich als solchen, kann aber nicht erwarten, dass dies andere auch tun. Zwar können sich die in der Stadt Geborenen im Besitz der Interpretationswahrheit wähnen, sie sind im Normalfall aber auch nicht irritiert, wenn Touristen und Touristinnen dagegen verstoßen (wohl aber, wenn Einheimische dies tun).
Trotz der offensichtlichen Widersprüche zum ursprünglichen historischen Text können städtische Akteure und Akteurinnen mit neuen Lesarten leicht leben. Die Erforschung von urbanen Bewegungsräumen basiert üblicherweise auf subjektiven und individuell angelegten mental maps oder cognitive maps. Solche ermöglichen die Rekonstruktion von persönlichen inneren Stadtkarten und demonstrieren, wie Individuen, Einheimische genauso wie Fremde, den urbanen Text wahrnehmen und lesen. Letztendlich geht es dabei um den Einfluss der gebauten Umgebung auf die räumliche Orientierung.20 Diese subjekt-orientierte, kulturanthropologische Strategie kann ich von Graz aus nicht zum Einsatz bringen, sondern kann Muster gesamtstädtischer Aktivitäten nur von meinen zwanzig Jahre alten, vor Ort getätigten Aufzeichnungen ableiten. Dies hat Violich mit mental maps in seiner Dalmatienstudie hinsichtlich Dubrovniks bereits vorexerziert und dokumentiert. Obwohl die einfache Topografie des geometrischen Straßensystems auf einer Karte dem Betrachter und der Betrachterin mit voller Macht ins Auge springt, ist es für ihn und sie kaum möglich, die Stadt in der Praxis als funktionale und visuelle Gesamtheit zu erfassen.21
Diese fragmentierte Wahrnehmung formt das touristische Verhalten und Bewegung im urbanen Raum. Während es Belege dafür gibt, dass die Bewegungsräume der Einheimischen soziale Grenzen aufweisen und ritualisiert sowie auch vom ›Text‹ strukturiert werden,22 scheint das touristische Verhalten unbehindert und kaum innerhalb gewisser Grenzen abzulaufen; die wenigen urbanen Textelemente scheinen ausreichend stark zu sein, um Kurzzeitbesucher und -besucherinnen entlang der ›richtigen Wege‹ zu geleiten. Die meisten von ihnen stampfen im Text herum, wie unerfahrene Tänzer und Tänzerinnen auf dem Tanzboden. Aber was sollten sie angesichts ihrer Unkenntnis und knapp bemessenen Aufenthaltsdauer anders tun? Die Einheimischen empfinden dies außerdem als nicht besonders störend, da sie sich an diese Bewegungsmuster, die ihre eigenen nicht berühren, schon längst gewöhnt haben.
Die TouristInnenguides dirigieren die Bewegungen der Tagesausflügler in spezielle Räume, die von den Einheimischen nicht oder nur für andere Zwecke genutzt werden. Einer dieser von den Einheimischen nicht genutzten Räume, die für viele Touristen und Touristinnen jedoch die Hauptattraktion darstellen, ist die begehbare Stadtmauer. Über zwei Kilometer lang verläuft sie rund um die Altstadt, teilweise hoch über den Dachfirsten. Da jährlich einige hunderttausend Touristinnen und Touristen eine Mauerwanderung unternehmen und dafür eine gar nicht so geringe Gebühr entrichten, kommt gutes Geld für die Erhaltung der Mauern herein; für die Einheimischen ist diese Gebühr ausreichend Grund dafür, die Mauern nicht zu betreten.
Festungsturm und begehbare Stadtmauer © Karl Kaser
Ein anderer, ausschließlich Touristen und Touristinnen vorbehaltener Bewegungsraum ist die Prijeko genannte Restaurant-Meile, die parallel und erhöht zur Hauptstraße verläuft; die Hauptstraße selbst, Stradun genannt, ist frei von Restaurants. Für den Prijeko gilt dasselbe wie für die Stadtmauer: Die Einheimischen meiden ihn so gut es geht. Restaurants, die dem Geschmack und der Preiskategorie Einheimischer entsprechen würden, gibt es innerhalb der Stadtmauern nicht mehr.
Es gibt nur einen Ort in der Stadt, wo sich die Bewegungsräume der Einheimischen und TouristInnen überschneiden, und dies ist der Stradun – die Hauptstraße bzw. die Hauptflaniermeile. Er verlockt Spazierende sich Zeit zu nehmen, kleine Einkäufe zu tätigen oder sich vor einem Café niederzulassen. Während der Corso, das rituelle Sehen und Sich-sehen-lassen für die Einheimischen spezielle Regeln kennt, gilt dies für den touristischen Corso nicht, der völlig regellos abläuft. Lediglich die heißen Mittagstemperaturen, die das steinerne Pflaster zum Glühen bringen, vermögen Besuchermassen daran zu hindern, die wenige hundert Meter lange Straße in der prallen Sonne rauf- und runterzulaufen. Es ist nicht schwer, Einheimische und TouristInnen auseinanderzuhalten. Während erstere den Stradun entlang zu schweben scheinen und sich nach Freunden und Bekannten umzusehen, um ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, hier zu geregelten Zeiten erscheinen, um zu sehen und gesehen zu werden, zeigen sich TouristInnen üblicherweise von der Macht des Straßenraumes beeindruckt und unternehmen viele vergebliche Versuche, den Bewegungsraum mit ihren Kameras einzufangen. Sie schweben nicht, sondern trampeln, stiefeln oder verhalten sich anderweitig nicht ortskonform, was ihnen von den Einheimischen jedoch verziehen wird. Sie machen vor Shops stopp (was Einheimische zwar auch tun, aber nur, weil sie wahrscheinlich mit den InhaberInnen befreundet sind) und stoppen im Normalfall noch öfter, um ein Selfie zu machen (auch dies würde Einheimischen kaum in den Sinn kommen), sie kaufen mitunter noch Fotopostkarten und besorgen sich Infomaterial für die Stadt. Während die TouristInnen kein Bewegungstabu kennen und alle unsichtbaren Grenzen und Barrieren ignorieren, werden diese Tabuorte von den Einheimischen respektiert oder nur zu besonderen Anlässen betreten.
Ein seltener Anblick – der beinahe menschenleere Stradun © Miro Staničić
Vesna Vučinić, Belgrader Kultur- und Sozialanthropologin, erforschte noch 1990/91, also knapp vor Kriegsausbruch, die Aktionsräume in der Dubrovniker Altstadt: Wer betritt welche Räume wann und zu welchem Zweck? In welchem Ausmaß bestimmt die architektonisch definierte Raumstruktur die Bewegungsabfolge? Vučinić arbeitete die inneren Grenzen des Stadtgefüges heraus und wie diese individuell oder kollektiv wahrgenommen wurden. Sie arbeitete auch die soziale Schichtung und die Raumverteilung über die Stadt heraus und stellte die soziale Durchlässigkeit bestimmter urbaner Räume infrage.23 Es ist faszinierend zu beobachten, wie in der Tourismussaison (ca. April bis Oktober/November) diese Grenzen und sozialen Räume überlagert werden von chaotisch-suchenden, neugierig sich bewegenden Touristenmassen, die in die Stadt strömen. Erst in den Wintermonaten, wenn die Stadt in Agonie liegt, die Einheimischen wieder zu sich kommen und der stadteigene Rhythmus wieder erkennbar wird, werden ihre originären Handlungsräume wieder klarer sichtbar.
Zum Abschluss sollten die Worte des eingangs erwähnten Marc van Bloemen nochmals wachgerufen werden, der davon spricht, dass die TouristInnenmassen und der Lärm die Einheimischen aus der Altstadt vertreiben würden und dass für sie das Leben zu einem Albtraum geworden sei. In meinem Beitrag über die Umdeutung einer einst blühenden europäischen Handelsmetropole in einen touristischen Hotspot habe ich Sachverhalte außer Acht gelassen, die für das Verständnis der heutigen Problemlage wichtig wären. Hafen- und Stadtverwaltung entscheiden schlussendlich über die Einfahrtsgenehmigung von Kreuzfahrtschiffen. Viele erhoffen sich, dass die daraus abgeschöpften Einnahmen der Stadt und ihren BewohnerInnen zugutekommen würden. Viele andere fragen sich, wo dieses Geld (angeblich oder tatsächlich) versickern würde. Die Liste an Fragen und Akteuren und Akteurinnen in diesem Spiel um die Ausbeutung touristischer Attraktionen könnte spielend fortgesetzt werden, würde uns allerdings tief in die Niederungen lokaler städtischer Politik führen, die an der südwestlichen Peripherie Kroatiens gelegen eine spezielle Agenda aufweist.
Was mein Beitrag hoffentlich zeigen konnte, ist die Zerbrechlichkeit dieses Dubrovniker touristischen Vermarktungskonzepts, das das Leben in einer Stadt aus dem 17. Jahrhundert unter den Bedingungen der neoliberalen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts aufrechterhalten möchte. Da die meisten Menschen direkt oder indirekt vom Tourismus abhängig sind, ist es offensichtlich schwierig bzw. unmöglich, einen Punkt zu definieren, ab dem das Wachstum der Tourismusindustrie vor Ort Einhalt geboten werden sollte. Auf diese Weise wird die Stadt, die alte wie die neue, vom Tourismus und seiner Logik krakenhaft wuchernd erfasst und die Einheimischen immer stärker an die Peripherie drängt. Bereits jetzt ist es so, dass die Einheimischen und ihr Rhythmus, der mit der in Stein gegossenen Geschichte der Stadt untrennbar verknüpft ist, in den Sommermonaten in den Hintergrund tritt und der unregulierte Rhythmus der Anderen überhandnimmt. Bislang walten noch Kompromisse, die schweren Rhythmusstörungen sorgen jedoch bereits für aufkeimenden Widerstand.
1. Der vorliegende Text ist teilweise originär und teilweise baut er auf einen Text auf, den ich vor rund zwei Jahrzehnten verfasst habe: Karl Kaser: Dubrovnik’s Compromise with its History. New readings of a »frozen« text. Anthropological Journal on European Cultures 10 (2001): 125-141. Dieser Text entstand darüber hinaus im April 2020, als noch nicht klar war, dass die Covid-19-Krise den Tourismus völlig zum Erliegen bringen würde.
2. Verschnitt aus zwei von ihm zitierten Aussagen in: Michaela Hütig: Dubrovnik werden die Touristen zu viel, NWZOnline vom 29.9.2018 https://www.nwzonline.de/reisen/dubrovnik-kroatien-dubrovnik-werden-die-touristen-zu-viel_a_50,2,2610260116.html; Jane Foster: Crowds and cruise ships have ‚ruined‘ Dubrovnik, in: The Telegraph 23 (2017) https://www.edb.gov.hk/attachment/en/curriculum-development/kla/pshe/references-and-resources/tourism/reference_materials/Dubrovnik.pdf.
3. Rhythmus wird hier im Sinne von Lefebvre verstanden als eine Interaktion, die überall auftritt, wo es einen Ort, eine Zeit und einen Energieaufwand gibt. Rhythmen können Wiederholungen von Bewegungen, Gesten und Situationen sein, Interferenzen von linearen und zyklischen Prozessen oder Ereignisse wie Geburt, Wachstum und Abstieg darstellen. Henri Lefebvre: Space, Time, and Everyday Life. Translated by Stuart Elden and Gerald Moore London, New York 2004: continuum, 15.
4. Zur Geschichte des Dubrovniker Handels in dieser Zeit siehe beispielsweise Carter, Francis W. 1972. Dubrovnik (Ragusa). A Classic City-state, London-New York: Seminar Press: 135-168.
5. Corbin, Alain. 1994. Das Abendland und die Entdeckung der Küste, Frankfurt/Main: Fischer. 83, 102.
6. Abramić, Mihovil.1963. Dubrovnik. In Encikopedija Jugoslavije, vol 3, Zagreb: Leksigrafski zavod 1963, 123-126, 125; Kobašić, Antun. 1994. Neki socio-ekonomski aspekti 100-godišnjeg razvoja Dubrovnika (1890-1990). Anali zavoda za povijesne znanosti Hrvatske Akademije Znanosti i Umjetnosti 32: 159-208, 187.
7. Boissevain, Jeremy. 1996. Towards an Anthropology of European Communities? In Victoria A. Goddard, Josep R. Llobera & Cris Shore, The Anthropology of Europe. Identities and Boundaries in Conflict, Oxford: Berg 1996, 41-56, 49-52.
8. Über die Herkunft dieses Synonyms für Dubrovnik und Marketingnamens »Perle der Adria« wird spekuliert. Gerne wird auf den Schriftsteller George Bernard Shaw verwiesen, der 1929 im Zusammenhang der »Perle der Adria« gesagt oder geschrieben haben soll: »Wenn du den Himmel auf Erden sehen willst, dann besuche Dubrovnik.«
9. Aggelos Panayiotopoulos; Carlo Pisano: Overtourism Dystopias and Socialist Utopias: Towards an Urban Armature for Dubrovnik in: Tourism Planning & Development 16,4 2019, 393-410, 399-400.
10. Doris Peručić, Barbara Puh: Attitudes of Citizen of Dubrovnik Towards the Impact of Cruise Tourism on Dubrovnik, in: Tourism and Hospitality Management 8.2, 2012, 213-228, 214, 216.
12. Doris Peručić, Barbara Puh: Attitudes of Citizen of Dubrovnik Towards the Impact of Cruise Tourism on Dubrovnik, in: Tourism and Hospitality Management 8.2, 2012, 216, 218-226.
13. Lefebvre, Henri: Die Revolution der Städte, München: List 1972.
14. Noller, Peter. 1999. Globalisierung, Stadträume und Lebensstile. Kulturelle und lokale Repräsentationen des globalen Raums, Opladen: Buske und Budrich, 111.15
15.Métraux, Alexandre. 1992. Lichtbesessenheit. Zur Archäologie der Wahrnehmung im urbanen Milieu. In Manfred Smuda (Hg.), Die Großstadt als »Text«, München: Wilhelm Fink, 13-35. 30-33.16
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18.Pike, Burton. 1981. The Image of the City in Modern Literature, Princeton: Princeton University Press, IX.19
19. Smuda, Manfred: Vorwort. In Manfred Smuda (Hg.), Die Großstadt als »Text«, München: Wilhelm Fink, 7.20
20. Greverus, Ina-Maria. 1994. Was sucht der Anthropologe in der Stadt? Eine Collage. In Ina-Maria Greverus, Johannes Moser & Kirsten Salein (Hg.), STADTgedanken aus und über Frankfurt am Main. Der Stadt Frankfurt zum 1200. Geburtstag, Frankfurt: Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, 11-74. Hengartner, Thomas. 1999. Forschungsfeld Stadt. Zur Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischer Lebensformen, Berlin-Hamburg: Dietrich Reimer Verlag, 292-299.21
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