»Die Rhythmusanalyse vermag es,
einem Haus, einer Strasse, einer Stadt
so zuzuhören wie man einer Symphonie,
einer Oper zuhört.« Henri Lefebvre
Photo credit Tanja Rasul
Eine Symphonie für die Freiheit
Viola Raheb
Enge Gassen voller skandierender Menschen, die sich durch die Altstadt Bethlehems auf den Weg zum Platz vor der Geburtskirche machen. Frauen und Männer, Junge und Alte, nehmen den öffentlichen Raum in Besitz, beleben die Straßen und Plätze ihrer Stadt, um ein Zeichen zu setzen, um zu protestieren, um zu rebellieren. Sie scheinen die Mauer der jahrzehntealten Angst zu durchbrechen. Ihre Stimmen, Rufe und Lieder prangern das Schweigen an. Das Schweigen vieler Generationen vor ihnen sowie der Weltöffentlichkeit angesichts der Unterdrückung, der Menschenrechtsverletzungen, der Gewalt und der Gleichgültigkeit. Die selbst gebastelten bunten Transparente und Plakate halten ihre Träume von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Hoffnung fest. Vor unserem Haus am Al-Madbasseh-Platz schließe ich mich einem Frauenprotestmarsch an. Hoffnungsvoll, motiviert und singend marschieren wir Richtung Geburtskirche. Die Worte und der Rhythmus eines der Lieder hallen bis heute nach, als würde ihr Echo mich immer wieder heimsuchen:
غنّينا لبلادي أحلى الأغنيات
نزلنـا ع الشـوارع رفعنـا الراي
أغـاني للحرّيّة للوحدة الوطنيّة….
»Wir gehen auf die Straßen, hissen die Fahnen,
wir singen der Heimat die schönsten Lieder,
Lieder der Freiheit, der Einheit …«
Die oben beschriebenen Bilder von Protesten in Palästina entspringen meinen Jugenderinnerungen in meinem Geburtsort Bethlehem. Es war das Jahr 1988 – ein paar Monate zuvor, im Dezember 1987, war die erste palästinensische Intifada ausgebrochen. Die Intifada, die »Abschüttelung«, war der Widerstand einer jungen Generation, die unter der israelischen Besatzung geboren und aufgewachsen war und die sich nach einem Leben in Würde und Frieden sehnte – ohne Besatzung, ohne Militärgesetze, ohne Zensur, ohne willkürliche Verhaftungen, ohne Angst! Die erste Intifada war eine grassroots-Bewegung, ein Aufstand der zivilen Gesellschaft in Palästina. Zur ersten Intifada gehörten Aktionen wie etwa Streik, Flugblätter drucken und verteilen, Hilfskomitees in den verschiedenen Lebensbereichen etwa der Bildung und Gesundheit gründen u.v.m. Es war eine von kreativem, gewaltlosem Widerstand bewegte »Abschüttelung«.
Für einen kurzen Moment richtete sich damals die mediale Aufmerksamkeit auf die jungen Protestierenden. Ihre Bilder gingen um den Globus, Journalist*innen porträtierten ihre Gesichter und Geschichten, bevor sie wieder zu den nächsten Schauplätzen politischer Geschehnisse weiterreisten und die Protestierenden ihrem Schicksal überließen. Dreißig Jahre später, im Jahr 2017, dokumentierte die brasilianische Filmemacherin Julia Bacha einen Teil dieser Geschichte. In ihrem Film »Naila and the Uprising« zeigt sie den Einsatz palästinensischer Frauen in der ersten Intifada und macht ihn damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Im Zentrum des Dokumentarfilms steht die Palästinenserin Naila Ayesh. Im Alter von acht Jahren erlebte Naila die Zerstörung ihres Elternhauses in Lifta, einem palästinensischen Dorf am Rande Jerusalems – ein Erlebnis, das Naila stark geprägt hat. Mit Ausbruch der Intifada 1987 schloss sich Naila einer Gruppe palästinensischer Frauen an, die sich politisch für die Beendigung israelischer Besatzung engagierten. Ihr Einsatz brachte Naila in israelische Haft. Die daraus resultierenden Repressalien, der Verlust persönlicher Freiheit und die Trennung von der Familie waren Teil des Preises für dieses politische Engagement. Ein Schicksal, das viele palästinensische Frauen teilen, wie Bacha in einem Interview erklärt:
»We chose Naila’s story as the gateway to illustrate women’s leadership during the Intifada because it captures so much of a typical Palestinian woman’s experience – having to choose between family and the call to resistance while dealing with all the oppression of occupation, from prison to deportation.«1
Inzwischen bin ich fünfzig Jahre alt. In den letzten dreißig Jahren bin ich Zeugin vielfältiger Proteste auf den Straßen arabischer Städte geworden. In einigen nahöstlichen Ländern – u.a. in Ägypten, Tunesien, Algerien, Libyen, Syrien, Irak, Bahrain, Sudan, Jemen und im Libanon – bildeten sich Protestbewegungen. Manche von ihnen schafften es, namentlich in die Geschichte einzugehen, wie etwa die erste und zweite Intifada oder der »arabische Frühling«: Die zweite Intifada entfachte im Jahre 2000. Sie kam im politischen Kontext der Post-Oslo-Friedensgespräche auf. Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hatten sich stark verändert und dementsprechend die eingesetzten Methoden und Aktionen des Widerstandes. Die zweite Intifada war von mehr Gewalt und Gegengewalt gekennzeichnet. Mit dem arabischen Frühling werden die Protestbewegungen ab 2010 bezeichnet, die zuerst in Tunesien später in Ägypten, Syrien, Libyen, Jemen und Bahrain entfachten. Massenproteste gegen die herrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen wollten eine Veränderung der herrschenden Systeme vorantreiben. Junge Menschen sehnten sich nach einem Leben in Freiheit und Würde. Der Ausgang dieser Proteste war je nach Land ganz unterschiedlich. Während etwa in Tunesien ein politischer Wandel erzielt werden konnte, versinken Ländern wie Syrien und Libyen weiterhin in Gewalt, Krieg und Zerstörung.
Die Mehrheit der Proteste blieb jedoch unbenannt oder wurde vereinfacht unter »Revolution«, »Arabellion« oder gar »Umwälzungen« summiert. Vielen dieser Protestbewegungen gelang es für eine kurze Zeitspanne, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit an sich zu ziehen und somit für Schlagzeilen in der internationalen Medienlandschaft zu sorgen, bevor auch sie wieder ins Abseits des medialen Interesses gerieten.
Regierungen ändern sich, Ländergrenzen ändern sich, Städtenamen ändern sich… Doch was bleibt, ist, dass die Städte arabischer Länder Handlungsorte vieler Frauengenerationen sind, die über die letzten Jahrzehnte dafür gekämpft haben, dass sich die politischen und sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen verändern. Die Generationen meiner Großmutter und meiner Mutter engagierten sich von Anfang bis Mitte des letzten Jahrhunderts für Unabhängigkeit, gegen koloniale Herrschaft, gegen wirtschaftliche Marginalisierung und soziale Ungleichheiten sowie gegen patriarchale Bevormundung. Viele Frauen dieser Generationen waren die ersten Feministinnen der arabischen Region, die sich für einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, für das Frauenwahlrecht sowie für eine Reform der Personenstandsrechte einsetzten — und das in einer Zeit, in der die heute existierenden Nationalstaaten mehrheitlich noch unter kolonialer Herrschaft standen. Eine Aufzählung selbst nur der wichtigsten Vorkämpferinnen in den verschiedenen arabischen Gesellschaften würde hier den Rahmen sprengen. Der Rhythmus vieler arabischer Städte wurde immer und immer wieder von dem Engagement ihrer Bewohner*innen geprägt. Stellvertretend seien hier nur ein paar Beispiele genannt, wie etwa Naziq al-Abid (1898-1959), eine Frauenaktivistin und politische Kämpferin gegen die osmanische Fremdherrschaft und später die französische Kolonialherrschaft im heutigen Syrien. Huda Shaarawi (1879-1947), Gründerin der Ägyptischen Feministischen Union (1923) und eine der wohl bekanntesten Persönlichkeiten der ägyptischen Frauenbewegung Anfang letzten Jahrhunderts. Tarab Abd al-Hadi (1910-1976), eine politische und Frauenaktivistin und eine der Gründerinnen der Palestine Arab Women’s Congress (1929). Sabiha al-Shaykh Da’ud (1912–1975), die erste Rechtsanwältin und später Richterin des Irak und eine Frauenrechtlerin und Aktivistin im Kontext der 1920 gegründeten irakischen Women’s Awakening Club. Die Ärztin, Psychiaterin, Schriftstellerin und Aktivistin Nawal El Saadawi (1931-), die ihr Leben lang für die Rechte der Frauen kämpfte, 1982 die Arab Women Solidarity Association gründete und bereits in den 1970er Jahren ihre Stimme gegen die weibliche Genitalverstümmelung erhob. Heute engagiere ich mich mit vielen Frauen meiner Generation und der Generation meiner Kinder für Geschlechtergerechtigkeit, soziale, wirtschaftliche, politische und ökologische Gerechtigkeit in der arabischen wie auch der westeuropäischen Gesellschaft.
Immer und immer wieder gelang es Frauen, eine Symphonie für Freiheit, Menschenrechte, Gerechtigkeit und Teilhabe erklingen zu lassen. Den Rhythmus dieser kollektiven Symphonien höre ich in meiner Brust schlagen. Ein Rhythmus, der mich an die Ursprünge einer reichen Tradition erinnert, in der starke Frauengenerationen stehen, die ihre Stimme für eine gerechtere Welt erheben. Ein Rhythmus, der mir Mut macht, auch in Zeiten des politischen Populismus, Extremismus und reaktionärer Strömungen in Religion, Politik und Gesellschaft – egal ob in den arabischen Ländern oder in Österreich oder sonst wo – nicht aufzugeben, nicht zu verzagen.
Meinen emanzipatorischen, feministischen und friedensbewegten Geist, der mir stets die Kraft zum Kämpfen gibt, verdanke ich all den wunderbaren Ahninnen, die mich bis heute inspirieren. Ihre Namen, Gesichter, Geschichten, Forderungen, Erfolge wie Rückschläge gehören wiederentdeckt und gehört.
1. Jennifer Creery, ‘A life in resistance: Naila Ayesh and the women of the First Palestinian Intifada’, Hong Kong Free Press, 30.3. 2019, https://hongkongfp.com/2019/03/30/life-resistance-naila-ayesh-women-first-palestinian-intifada/ (letzter Zugriff 27.07.2020)