Zu dieser Publikation
Die diskursive Tendenz der klassischen Mittelmeeranthropologie, die »Einheit in der Vielfalt« zu rühmen, trifft seit der Jahrtausendwende vermehrt auf touristisch-marktwirtschaftlich motivierte Diskurse der positiven Hervorhebung des Kosmopolitischen. Dieses Sprechen manifestiert sich als bürgerliche Sehnsucht und Ausblick aus politischer Ratlosigkeit angesichts von Dekolonisierungsdramen im Süden und politischen Legitimationskrisen im Norden. Eine Forschungsreise in verschiedene Städte des Mittelmeerraums veranlasste uns, über diese Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit aktueller Gegebenheiten nachzudenken. Um diese Dispositionen in ihrer Simultanität denken und verstehen zu können, sind wir dem Zugang der »Rhythmusanalyse« von Henri Lefebvre und Cathérine Régulier (1986) gefolgt und haben uns in die Mittelmeerstädte, in die »Wiege(n) des Stadtstaates«, begeben. Diesem, im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts skizzierten und seither periodisch viel diskutierten Stadtforschungsansatz haben wir, um politisch(-theoretisch)e und in die Gegenwartsrelevanzen hineinreichende Fragen und Positionen mitaufzunehmen, weitere Dimensionen von »Rhythmus” hinzugefügt.
Forscher_innen und Bürger_innen dieser Städte sind eingeladen, sich der vorliegenden offenen Publikation anzuschließen. Dabei soll ein weiter Begriff des Rhythmus Pate stehen, der – wie Lefebvre & Régulier es vorgezeichnet haben – genügend analytischen Raum lässt für das eigene sensorische wie intellektuelle Stadterleben und die Belange sowohl der historischen Erfahrung als auch der dringenden Fragen dieser sich rasch wandelnden Epoche. Die krisenhafte Gegenwart in ihren Expressionen, Manifestationen und Non-Dit’s, den diskursiv verborgenen Dimensionen, ist es auch, die nach alternativen offenen Formen des wissenschaftlichen und politischen Denkens und Ausdrucks, der Auseinandersetzung mit dem Kollektiv, dem Sozialen verlangt. Anliegen der Autor_innen dieser Publikation ist darüber hinaus die dezidierte Öffnung eines weißen und männlichen Wissenschaftsdiskurses, wie er die eurozentrische Wissenschaftslandschaft markiert. Hiermit sollte eine kontrapunktische Lesart des Mittelmeerraumes initiiert werden. Sie versteht sich als Versuch, an antikoloniale Denktraditionen anzuknüpfen, die sich mit der Verwobenheit des Mittelmeerraumes und der ihr inhärenten europäischen Hegemonie hinsichtlich soziopolitischer Gegebenheiten, Ökonomie, aber auch Wissensproduktion beschäftigt. Die historischen Verflechtungen werden nicht als Relikt vergangener Zeiten angesehen, sondern der Versuch unternommen, ein Bewusstsein für postkoloniale und neokoloniale Macht – und Gewaltverhältnisse herauszuarbeiten. Mit dem Blick auf diesen umkämpften Raum möchten wir die Vielstimmigkeit für sich sprechen lassen, in dem Akteur_innen verschiedener Orte am Mittelmeer in unterschiedlichen Formaten zu Wort und Bild kommen.
Mittelmeerhafenstädte
Der Forschungsfokus unseres Projektes richtet sich auf die Hafenstädte des Mittelmeeres. Viele von ihnen zählen zu den ältesten menschlichen Siedlungen: Hier verdichten sich die Erfahrungen des Zusammenlebens verschiedenster Bewohner_innen. Aufgrund ihrer Küstenlage haben diese Städte in wechselnden Perioden und Abschnitten als Handels – und Machtzentren Blütezeiten und Niedergänge erlebt, Eroberungs – und Befreiungswellen, deren Spuren die gebaute Stadtstruktur bis heute trägt. Gilt dieses Erbe – diese Frage stellen wir uns – auch für die politischen Dimensionen von Alltag und Gesellschaft, für die langlebigen mentalen Strukturen?
In den Mittelmeerstädten, so Lefebvre & Régulier, haben sich »früh Machtverhältnisse und politische Mächte eingestellt«, die sich des Raumes als »politisches Instrument« und »Mittel der Kontrolle” bedienten. Die Bewohner_innen dagegen, so ihre These, haben, dem entgegen, die Zeit besetzt: »Durch einen bestimmten Gebrauch der Zeit widersteht der Bürger dem Staat.« Seine Freiheit besteht »nicht in der Tatsache, ein freier Staatsbürger zu sein – sondern in der Stadt, außerhalb des Staates, frei zu sein.«
Diese Zitate stellen sich als Ankerpunkte einer politisch-anthropologischen Kulturanalyse heraus, welche drei Momente des gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Interesses unterstreichen. Diese betreffen zum einen die Freiheit über die Zeit. Wie wird eine solche Freiheit konkret vorstellbar? Welche alltagskulturellen – politischen und sozialen – Artikulationen einer solche Freiheit können heute innerhalb der Stadt und »außerhalb des Staates” vorgefunden werden? Zum zweiten betreffen sie die Fragen nach den Möglichkeiten des Zusammenlebens der Vielen und damit in gewisser Weise jenes Ideal des Kosmopolitischen, das in den emischen wie etischen Diskursen über Mittelmeerhafenstädte mitschwingt. Die diachrone und synchrone Vielstimmigkeit und Vielsprachigkeit dieser Städte – im Grunde aller Städte – sensibilisiere ihre Bewohner_innen, so Lefebvre & Régulier für »die Wahrnehmung der Vielfalt der Rhythmen ›des Anderen‹«. Welche Lektionen in diesem Sinne erteilen diese Städte den in hohem Maße durchmischten krisenhaften europäischen Städten in der späten Moderne, für die der Begriff der Multikultur einerseits charismatisch mit Affekten und Sehnsüchten einer linken politischen Utopie aufgeladen ist, während er anderseits steter Stein des konfliktuellen Anstoßes der sich überfremdet empfindenen Bürger_innen ist?
Und zum dritten geht es um die übergreifende Frage nach der möglichen zeitgenössischen Gestalt einer Stadtbürger_innenschaft, wie sie im Typus der Mittelmeerhafenstädte seit ihren antiken Anfängen angelegt ist und sich – in Anlehnung an Pierre Clastres – als »société contre l’Etat«, als staatenlose Gesellschaftsform charakterisieren ließe. Mittelmeerhafenstädte, Lefebvre & Régulier zufolge, zeichne die Verweigerung jeglicher Form von Zentralismus, von »Hegemonie und Homogenität« aus. Als terres de passage, als dynamische, von Handel geprägte Durchgangsräume wurden sie über die Jahrtausende in den unterschiedlichen historischen Phasen vom Meer her eingenommen, besetzt und bespielt: einmal zerstört, dann wieder entwickelt. »Die großen Mittelmeerstädte scheinen schon immer unter der Notwendigkeit zu Kompromissen zwischen den politischen Mächten gelebt zu haben und noch zu leben. Ein solcher ›metastabiler‹ Zustand ist Tatsache des Polyrhythmischen«, einer Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Bewegungen und Tempi, die in Prozessen der Langen Dauer, einer longue durée, geformt wurden. Diesem Rhythmus des Vielstimmigen liege »eine zugleich private und öffentliche, sakrale und profane, sichtbare und geheime Organisation« eines Zeitrhythmus von Öffentlichkeit zugrunde.
Heuristik des Rhythmischen
Was bedeutet nun »Rhythmus” in dieser Perspektivierung? Was kann man sich konkret und theoretisch darunter vorstellen? Die Rhythmen einer Stadt beruhen Lefebvre & Régulier zufolge auf Bewegungen, die sich einerseits in zyklischen »Rotationen” und anderseits in linearen Wiederholungen äußern. Im Kontext des urbanen Alltagslebens wirken sie in einer Weise zusammen, welche die Raum-Zeitlichkeit der gesamten Stadt abzubilden vermag. Eine Rhythmusanalyse erfasse diese Rhythmen in ihrer Vielfalt, ihren sozialen und ökonomischen Zusammenhängen und in ihren Interferenzen und Interaktionen.
Welchen Mehrwert bringt dieser Zugang für die kultur – und sozialwissenschaftlich motivierte und geformte Stadtforschung? Er verlagert den Forschungsmodus und Forschungsfokus grundsätzlich auf Schnittstellen, auf das Zusammenlaufende, auf changierende Perspektivierungen und greift dabei »auf Begriffe und Aspekte zurück, die in der Analyse zu oft getrennt stehen, mit der Absicht, sie zu verbinden: Zeit und Raum, das Öffentliche und das Private, das Politische und das Intime«.
Über die Rhythmusanalyse erschließt sich die Stadt als ein »temporalisierter Ort«, als Orts-Zeitlichkeit und damit als Ort der Bewegung und daher der lebendigen Bevölkerung. Mit einer serendipischen, an der Offenheit der Wahrnehmung orientierten Haltung erfasst die Rhythmusanalytikerin die Resonanz einer Stadt und setzt sie kritisch-reflexiv zu ihrer historischen Disposition und ihren machtvollen Dispositiven in Beziehung. Der Rhythmusbegriff vermag hier, eine »rhizomatische statt hierarchische Gleichzeitigkeit von Abläufen […] und ihrer bedingt-bedingenden Wirkungen im Raum« der Gesellschaft darzustellen und zu interpretieren.
Diese Heuristik des Rhythmischen, die sowohl das Zyklische als auch das Lineare in den Blick nimmt, umfasst auch seine Verstörungen. Mit Lefebvre & Régulier fragen wir uns, wie die Selbstverständnisse und »Ideologien der Vielfalt« in Mittelmeerhafenstädten sich zu den periodischen Eruptionen der gewaltsamen »ethnischen Säuberung«, der kriegerischen Auseinandersetzung und der Revolte verhalten? Dann, wenn die harmonisierenden Ideale vom Zusammenleben des Verschiedenen und die Realitäten von Unrechtslagen und blutigen Auseinandersetzungen auseinanderdriften. Mit ihrem Verständnis von »Polyrhythmie” setzen Lefebvre & Régulier im Zentrum dieser Konfrontation an: »Die Polyrhythmie ergibt sich immer aus einem Widerspruch, aber auch aus dem Widerstand gegen diesen Widerspruch – dem Widerstand gegen eine Machtbeziehung und einen möglichen Konflikt.« Sie schreiben, dass es die »Allianz im Kompromiss« sei, die den politischen Rhythmus der Mittelmeerstädte kennzeichne, da sich hier sowohl in Konflikten als auch in Bündnissen feste und dauerhafte Beziehungen fänden.
Nicht nur inhaltlich möchten wir mit diesem Experiment Kontrapunkte in der Wissensproduktion setzen. So nützen wir, entgegen den gewohnten ökonomisierten Rhythmen der klassischen Organe der Wissenschaftsproduktion und ihren linearen und zunehmend stringenten Terminierungen, die Möglichkeiten des Digitalen. Mit dem Versuch einer offenen deadline soll ein Publikationsmodus des Unfertigen und Erweiterbaren abgebildet werden, der es ermöglicht, das korporeale und in konzentrischen Kreisen denkende Selbst virtuell mit dem Schreibkollektiv zu verbinden. Diese Publikation ist also ein Versuch, sich den Rhythmen einer hegemonialen Doktrin auf verschiedenen Ebenen zu widersetzen und die Möglichkeit einer alternativen Wissensproduktion auszuloten, welcher die Bildung von Allianzen an Widerständigen inhärent ist.