Rhythmusanalytische Überlegungen
zur Insel Lampedusa
Gilles Reckinger
»Lampedusa is many things to many people« (Odasso/ Proglio 2018)
1. Kartierungen
Lampedusa ist die Mitte des Mittelmeers, und das ist keine Frage einer eurozentristisch verstellten Perspektive. Von hier ist es fast gleich weit nach Gibraltar wie nach Beirut, nach Sfax wie nach Catania. (Im Gegensatz zu seiner Nachbarinsel Linosa, mit der es eine Gemeinde bildet, liegt Lampedusa jedoch auf der afrikanischen Kontinentalplatte, somit jedenfalls nicht in Europa, zu dem es nur politisch und auf der Ebene der imaginaires gehört.)
Lampedusa ist für Medien, Politik und europäische Öffentlichkeit »die Insel der Bootsflüchtlinge« und daher – seit mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder – in der Mitte der Aufmerksamkeit in Bezug auf die Bootsmigration über das Mittelmeer. (Kaum mehr als Projektionsraum für Phantasmen, und dann wieder komplett vergessen.)
Lampedusa ist die Insel, die anscheinend 1986 nur knapp von Gaddafis Raketen verfehlt wurde und damit zumindest kurzfristig in der Mitte geostrategischer bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen »dem Westen« und »dem Orient« stand. (Auch wenn gerne von der jahrhundertelangen friedlichen interreligiösen Koexistenz auf Lampedusa gesprochen wird, gibt es davon wenig zu berichten. Dass über die Jahrhunderte alle möglichen Mittelmeerreisenden hier vorbei gekommen und wieder fortgefahren sind, darf angenommen werden. Und seit den Schlagzeilen aus dem Jahr 1986 wissen zumindest die Italiener_innen des Festlandes von der Existenz der Insel.)
Lampedusa ist für die fünfeinhalbtausend Italiener_innen, die auf diesem neun Kilometer langen Felsen leben – nein, so gut wie keine Ausländer_innen –, die Mitte ihrer Welt. (Oft wochenlang ausbleibende Versorgungsfähre aus Sizilien inklusive.)
2. Rhythmusanalytische Überlegungen zu Lampedusa
Henri Lefebvres und Catherine Réguliers Ansatz der Rhythmusanalyse (2001 [1986]) setzt an den großen Städten des Mittelmeerraums an. Lampedusa hingegen ist winzig, schert aber auch aus anderen Gründen – für manche vielleicht unerwartet – aus den von Lefebvre/ Régulier beschriebenen mittelmeerischen Gemeinsamkeiten aus. Keine Zitadelle, keine Treppen. Keine baulichen Spuren, die auf historische Begegnungs- und Aushandlungsräume zwischen Nord und Süd, Ost und West hinweisen. Kein einziges bedeutendes historisches Ereignis zwischen der Antike und 1986, und selbst die Frage, ob Gaddafi nun Raketen in Richtung Lampedusa abgefeuert hat oder nicht, ist umstritten. Keine Blütezeit und also kein Niedergang, sondern Langeweile und Stillstand als Dauerzustand. Nur die Erzählung von einem Eremiten, der den religiösen Kult für die vorbeikommenden Muslim_innen und Christ_innen durchgeführt haben soll.
Die Insel ist dennoch oder gerade deshalb außerordentlich geeignet für eine rhythmusanalytische Begehung. Vielleicht, weil sie so klein ist, dass sie, um ein häufig von lampedusani, den Einwohner_innen Lampedusas, benutztes Bild zu zitieren, wie ein kleines Boot auf den Wellen des Meeres tanzend, mal hierhin, dann dorthin getrieben wird, sich in die eine oder andere Richtung neigt und wieder zurück, und immer bleibt ein bisschen etwas übrig, wird mitgenommen und Teil der Insel. In jedem Fall aber aufgrund der gegenhegemonialen Praxen weiter Teile der lampedusani.
Die seit der vom Königreich beider Sizilien organisierte Besiedlung Lampedusas um 1840 – aus strategischen Gründen: die expansionsorientierte Seemacht Großbritannien saß neunzig Kilometer östlich in Malta – führte von Anfang an für die Bevölkerung nicht zum erhofften und vor allem versprochenen Wohlstand. Dass ab 1878 zusätzlich immer mehr Verbannte auf die Insel gebracht wurden, stärkte nicht gerade die Begeisterung für und die Identifizierung mit dem Staat. Die identitären Verarbeitungsstrategien dieser familiären Geschichten bewegen sich heute zwischen Glorifizierung des Pioniergeistes der Vorfahren oder ihrer politischen – oft anarchistischen oder kommunistischen – politischen Orientierung, oder Scham für den – oft nur angenommenen, weil nicht mehr belegbaren – kriminellen oder staatsgefährdenden Makel in der Familie.
Die Abhängigkeit der Insel von Versorgungslieferungen bestand seit den Anfängen der Besiedlung und dauert bis heute an. Die aufgrund der seit 180 Jahren nicht in Gang kommenden ökonomischen Entwicklung erlebte Abwesenheit des Staates fördert in der lokalen Bevölkerung Identitätskonstruktionen jenseits hegemonialer zentralistischer Vorstellungen (Lefebvre/ Régulier 2001, 10) und eine Haltung von Freiheit außerhalb des Staates (Lefebvre/ Régulier 2001, 8), die bisweilen deutlich anarchische Züge annimmt, etwa in der inkorporierten Weigerung sämtlicher lampedusani, sich beim Autofahren anzuschnallen, oder ihrer freien Interpretation von Bauvorschriften, Verkehrsregeln und anderen Gesetzen.
»Wir sind Afrikaner«, hört man immer wieder: so arm wie die Menschen in Afrika, aber nicht so durchtrieben wie die Italiener_innen auf dem Festland, wie mir ein lampedusano erklärte – wobei in Lampedusa Sizilien oft als Referenzort genommen wird: so groß, quasi schon Festland.
Hinzu kommt die Entfremdung von Italien, das in den Augen der lokalen Bevölkerung kontinuierlich Politik auf dem Buckel der Insel macht: etwa über die Art, wie Rom die Verwaltung der Bootsmigration organisiert bzw. instrumentalisiert, oder über die Stationierung von Militärverbänden auf der Insel, aber auch wegen der oft versprochenen und nie umgesetzten steuerlichen Erleichterungen für die Gemeinde. Das distanzierte Verhältnis zu Italien – zu dessen politischer Hegemonie es freilich aktuell keine Alternative gibt – und die exponierte Lage am Rande Europas lässt auch in Lampedusa einen »metastabilen Zustand des Polyrhythmischen« spürbar werden, »einer Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Bewegungen und Tempi, die in Prozessen der langen Dauer geformt wurden.« (Lefebvre/ Régulier 2001, 5)
Die musikalischen Anklänge der Begrifflichkeit Lefebvres und Réguliers legen eine Beschäftigung mit Klängen, Geräuschen – soundscapes – und Takt bzw. Rhythmen nahe.
Auf ersteres einzugehen kann an dieser Stelle kaum geleistet werden, abgesehen von der Erwähnung der Geräuschkulisse der omnipräsenten Mopeds, die Lampedusa unmittelbar einer weit verbreiteten Vorstellung Italiens zuordnen, und der Unüberhörbarkeit jeglicher regulärer Personentransferverbindung von und nach außen (startende und landende Flugzeuge bzw. das dumpfe Dröhnen der Versorgungsfähre), die die ansonsten vorherrschende Stille unterbrechen. Zu letzterem komme ich weiter unten.
Ich möchte im Folgenden drei Ebenen der in Lampedusa relevanten Rhythmen in den Blick nehmen. Beginnen werde ich mit der historisch rezentesten Rhythmisierung durch die Bootsmigration, auch weil die imaginaires um die Insel sich derart macht- und wirkungsvoll in die europäische doxa eingeschrieben haben, dass sich der Blick erst nach der Thematisierung dieses medial vermittelten Notstandsblocks – der doch längst zum strukturellen Dauerzustand geworden ist – auf anderes, möglicherweise Erhellenderes richten kann.
Bootsmigration
Historisch neu ist die Bootsmigration keineswegs, denn sie begann nach und nach in den 1990er Jahren und ist seit zwanzig Jahren eine Realität im Alltag der lampedusani.
Mit dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens begannen sporadisch Boote in Lampedusa anzukommen, aber auch auf den Nachbarinseln, im bis heute medial völlig unbeachtet gebliebenen Linosa, in Pantelleria, Sizilien, aber auch in Kalabrien und sogar manchmal in Sardinien. Die Boote fuhren abhängig von der Ablagestelle dorthin, wo Wind und Wellen sie hintrugen. An den Orten, wo sie ankamen, gab es keine staatliche Infrastruktur, um diese entstehende Realität aufzufangen, also tat es die lokale Bevölkerung.
Viele lampedusani sprechen von dieser Zeit rückblickend positiv, weil es zu realen Begegnungen mit den Bootsmigrant_innen kam und kommen durfte. Die lampedusani nahmen die Leute mit zu sich nach Hause, gaben ihnen zu essen und ein Bett, und am Folgetag oder ein paar Tage später gingen sie mit den Menschen zur lokalen Polizeistation oder zum Zoll, den einzigen Repräsentationsinstanzen des Staates. Von dort wurden die Menschen, meistens mit der regulären Fähre, nach Sizilien und aufs Festland gebracht, wo ihr Aufnahmeverfahren begann. Dies ist sicherlich ein Grund, dass die lampedusani für »die Wahrnehmung der Vielfalt der Rhythmen ›des Anderen‹« sensibilisiert sind. (Lefebvre/ Régulier 2001, 10)
Das Ausmaß der Bootsanlandungen ist abhängig vom Wetter, also zumindest teilweise von der Jahreszeit. Das ist bis heute so. Diese Rhythmisierung der Bootsmigration wird von einigen lampedusani beschrieben, die die jahreszeitlichen Wanderungen der Wale und der unechten Karettschildkröte in einem Atemzug nennen, um zu unterstreichen, dass sie Bewegung im Mittelmeerraum als Normalfall, als etwas Natürliches sehen, das keiner moralischen Bewertung zu unterliegen hat. »Du bist einer, der sich aus diesem Meer rausgerettet hat? Du hast das alles auf dich genommen, um bis hierher zu kommen? Setz dich hin, mach’s dir bequem, ich helfe dir,« formulierte es eine lampedusana (Reckinger 2013, 79/ Reckinger 2016).
In diesem Zusammenhang wichtiger ist aber die Rhythmisierung durch wechselnde mediale Konjunkturen. Erst als in den 1990er Jahren das Phänomen zahlenmäßig bedeutender wurde und die italienische Politik sich dafür entschied, die Bootsmigration in Lampedusa zusammenzuführen, indem Verbände der Exekutive auf die Insel verlegt und ein erstes Lager für die Geflüchteten auf der Insel geschaffen wurde, kamen die Massenmedien auf den Plan. Sie produzierten nun die Bilder, die sich in die imaginaires der Europäer_innen eingeschrieben haben: volle Boote mit aus der Distanz aufgenommenen amorphen, meist schwarzen Gesichtern. Medial verbreitete Bilder, die erstmals in der Lage waren, irreguläre, heimliche, wie es in den romanischen Sprachen oft heißt, Migration darzustellen, herzustellen, urgence im Sinne Foucaults zu vermitteln. Je nach politischer Konjunktur wurden und werden diese Bilder mehr oder weniger regelmäßig in die Wohnzimmer geschickt, und je nach bildlicher Konjunktur werden unterschiedliche politische Maßnahmen gesetzt, wobei – in allen Ländern des globalen Nordens – eine kontinuierliche Verschärfung des Umgangs und eine Degradierung der menschenrechtlichen Lage zu verzeichnen ist.
In den letzten Jahren ist Lampedusa zugunsten einiger griechischer und zuletzt kanarischer Inseln wieder ein wenig aus dem Blickfeld geraten. Diese konjunkturabhängige politische Bedeutung und Instrumentalisierung als Stück Italien und Europa steht im Gegensatz zu Henri Lefebvres und Catherine Réguliers, aber auch zum ethnographischen Zugang, der sich für die Widerständigkeiten des Alltags interessiert. Tatsächlich widersetzten und widersetzen sich die lampedusani, indem sie die Zeit besetzt halten und sich ihr widersetzen (Lefebvre/ Régulier 2001).
Der extrem verlangsamte Alltag auf der Insel kann so tatsächlich als Widerstandsstrategie gelesen werden, wie die nächsten beiden Punkte verdeutlichen. Denn mit der staatlichen und europäischen Orchestrierung des Spektakels der Grenze sind die lampedusani Zug um Zug von der Begegnung mit den Bootsmigrant_innen ausgeschlossen worden. Von der Rettung auf See über die Ankunft im Hafen und die Unterbringung im Aufnahmelager bis zur Verlegung auf das Festland kontrolliert die öffentliche Hand die Prozesse weitgehend lückenlos – eine Entfremdung, die manche lampedusani beklagen. Einerseits fühlen sie sich zu recht von der zum Ehrenkodex von Inselgesellschaften gehörenden Möglichkeit ausgeschlossen, Schiffbrüchigen unmittelbar Hilfe zu leisten. Andererseits erfahren sie, wie Italien und Europa auf dem Rücken der Insel und der Menschen, die hier leben – Einheimische und Geflüchtete – Politik machen, ohne ihre Lebenswelten und spezifischen Bedingungen zu berücksichtigen. Ein lampedusano sagte mir: »Es ist die Invasion der Journalisten, und nicht der Immigranten, denn sie [die Journalist_innen, Anm. des Autors] tragen ihre eigenen Bilder und Vorstellungen hinaus. Ich habe die Bilder im Fernsehen gesehen. Das ist doch nicht Lampedusa. Wenn du herkommst, wirst du nichts von dem, was du dort gesehen hast, wiederfinden. Und nichts von dem, was du hier siehst, kommt im Fernsehen.« (Reckinger 2013, 200/ Reckinger 2016)
Tourismus
Paradoxerweise war der hypothetische Beschuss der Insel durch Gaddafi im Jahr 1986 der Startschuss für den Tourismus in Lampedusa. Quasi über Nacht war der kleine Felsen vor Afrika der italienischen Bevölkerung – bereits damals: medial vermittelt – bekannt geworden. Seither steigen die Zahlen im Tourismus kontinuierlich (zuvor wurde Lampedusa nur gelegentlich von Abenteurer_innen und Hippies aufgesucht). Dabei zeigen sich in der Art und Weise, wie dieser Tourismus organisiert ist, einige strukturell bedingte Aspekte der Misswirtschaft in Lampedusa. Obwohl klimatisch gesehen das ganze Jahr über Tourismus möglich wäre, konzentriert sich der Tourismus auf wenige Monate im Hochsommer, und es handelt sich um ausschließlich bade- und partyorientierten Massentourismus, dessen Steuerung sich auch mangels qualifizierter lokaler Initiativen weitgehend in den Händen von Reiseveranstaltungskonzernen befindet. Fast die gesamte Bevölkerung lebt im Sommer vom Tourismus, und eine/r versucht den/die andere/n mit den immer gleichen Angeboten zu überbieten: Inselumrundungen mit dem Boot, Vermietung von alten Citroën Méhari, Abendessen im familieneigenen Restaurant. Andere, nachhaltigere Aktivitäten werden kaum angeboten. Alle sind rund um die Uhr auf den Beinen, arbeiten, verbreiten Partystimmung, übertönen die anderen. Lampedusa im Sommer ist laut und aufgeregt. Die via Roma, die Hauptstraße des Ortes, wird im Juli und August für den Verkehr gesperrt und zur überfüllten Flanier- und Partymeile umfunktioniert. Bis weit in die Nacht ertönen Popmusik, Stimmengewirr und der Klang der Absätze im Gleichschritt der passeggiata. Mit dem letzten Charterflug im September bricht diese Welt augenblicklich zusammen. Das Schrille und Grelle verschwindet und unmittelbar macht sich die alljährliche winterliche Lethargie breit, mit einer Arbeitslosigkeitsrate von achtzig Prozent.
Infrastruktur
Die für den Alltag der Inselbewohner_innen relevantesten, nicht nur jahreszeitlich bedingten Rhythmisierungen zeigen sich – im Übrigen kontinuierlich seit der Besiedlung Mitte des 19. Jahrhunderts – auf der Ebene der Infrastruktur. Die Elektrizitätsproduktion mittels Dieselgeneratoren ist instabil und regelmäßig fällt der Strom aus. Dann wird Lampedusa zu einem der dunkelsten Orte der Welt. Regelmäßig fallen auch Telefon und Internet aus, wenn wieder einmal das Untersee-Telekommunikationskabel von vor der Insel kreuzenden Fischtrawlern oder den Ankern der sizilianischen Fischerboote beschädigt wurde.
Wichtiger ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass Lampedusa von jahreszeitlichen und der Misswirtschaft geschuldeten Versorgungsengpässen geprägt ist. Da es keine eigenen Wasservorkommen auf der Insel gibt, wird Meerwasser aufbereitet und in die Wasserleitungen eingespeist, zusätzlich zu Süßwasser, das regelmäßig vom Militär mit einem Tankschiff angeliefert wird. Die Versorgungs- und Personenfähre – einige Fischer beschrieben sie als seeuntüchtigen Schrotthaufen – kann bereits bei mäßigem Wellengang nicht mehr im Hafen anlegen, auch wenn sich die Situation inzwischen mit der Anlage eines EU-finanzierten alternativen Anlegepunkts an der dem Wind abgewendeten Seite der Insel geringfügig gebessert hat. Die Fähre bleibt dann oft wochenlang aus, was auch daran liegt, dass die Betreibergesellschaft in den langen Wintermonaten mit dem Betrieb kaum Geld verdienen kann und die meteorologischen Bedingungen oft nur als Rechtfertigung für die Einstellung des Betriebs vorschiebt (allerdings erhält sie für die gesetzlich vorgeschriebene Aufrechterhaltung der Verbindung und trotz der Nichterfüllung dieses Auftrags weiterhin staatliche Subventionen). In diesem Zeitraum kann man beobachten, wie von Tag zu Tag die Produkte in den Geschäften weniger werden und die Obst- und Gemüsehändler_innen nach und nach immer trauriger aussehende Ware anbieten, bis kaum noch frische Lebensmittel zu bekommen sind.
Viele der Lehrer_innen in der einzigen Sekundarschule der Insel wohnen in Sizilien. Wenn die Fähre ausbleibt, fällt oft auch der Unterricht aus, was die ohnehin angespannte Ausbildungssituation auf der Insel noch verschärft. In geringerem Ausmaß ist auch die medizinische Versorgung von der Fähre abhängig. Abgesehen von einem Ärzt_innennotdienst, der immer vor Ort erreichbar ist, kommen Fachärzt_innen ebenfalls von außen auf die Insel, allerdings oft mit dem Flugzeug. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die temporäre Auswanderung der Frauen fürs Gebären bzw. ihrer Babys fürs Geborenwerden ein prägender, von allen geteilter biografischer Einschnitt. Da die medizinische Versorgung unzureichend ist und keine Geburtsklinik vorhanden ist, verlassen Schwangere (in der Regel aus finanziellen Gründen viel zu spät) die Insel, um die letzten Tage, bzw. bestenfalls ein paar Wochen bei Verwandten auf dem Festland oder in Hotels zu verbringen, um sich und ihr Kind nicht zu gefährden. Seit Jahrzehnten werden auf der Insel keine Kinder mehr geboren (außer es kommt eine Bootsmigrantin in den Wehen an).
3. Polyrhythmische Widersprüche atmosphärisch
Ich möchte im letzten Teil meines Beitrags zwei solcher Situationen aus den Jahren 2011 und 2010 beschreiben (siehe Reckinger 2013/ Reckinger 2016). Sie mögen die polyrhythmischen Widersprüche (Lefebvre/ Régulier 2001, 10) und die »Allianz im Kompromiss« (Lefebvre/ Régulier 2001, 9) vielleicht sinnlich erfahrbar machen.
Keine Insel
Normalerweise höre ich jeden Morgen beim Aufwachen das dumpfe, das ganze Dorf erfüllende Dröhnen der Schiffsmotoren: die Fähre hat angelegt. Wenn ich noch schlaftrunken auf die Terrasse trete, erfüllt ihr Dieselgestank bereits die gesamte Umgebung.
Doch seit über einer Woche war die Luft stets klar gewesen, die einzigen Geräusche, die die Insel charakterisierten, waren entfernt beschleunigende Mopeds und zwei Mal am Tag der durchs Dorf brüllende Flieger nach Palermo. Heute Morgen soll die Fähre aber wieder anlegen. Ich beginne, in meiner unmittelbaren Nachbar_innenschaft die Veränderung zu der Zeit davor zu spüren. Wo sonst alles still liegt, nun Stimmen, Aufregung, Autos, Mopeds, alles ist in Bewegung. Auch mich zieht es nun hinaus und in den Hafen, um dem Event der Ankunft beizuwohnen.
Im Hafen angekommen, steht kurz darauf ein italienischer Journalist mit Fernsehkamera neben mir. Er kommt aus Palermo und berichtet für einen Regionalsender. Er ist 56. Er beklagt sich, dass er keine Lust mehr hat, weil er für die Lokalnachrichten immer überall hinfahren muss – meistens eh nur zu Geschäftseröffnungen, Einbrüchen und Theatervorführungen. »Die lampedusani sind uns Journalisten gegenüber sehr ambivalent eingestellt: sie mögen uns nicht, sie wollen nicht, dass über die Flüchtlinge berichtet wird, zugleich wissen sie aber auch, dass es nicht unsere Schuld ist, dass sie hier sind, und dass ja doch irgendjemand darüber berichten muss.«
Es kommt noch ein Kameramann an. Dann kommt ein ganzes Team. Sie scherzen, rauchen und unterhalten sich über Kameratechnik. Ein weiteres Zweierteam kommt an, und ein einsamer Fotograf, später auch ein RTL-Team. Der RTL-Reporter ist sauber frisiert, mit teurer Wachsjacke und teurer Jeans, so, wie man sie im Fernsehen sieht. Später rauchen sie sogar während des Filmens, der Rauch zieht auch vor dem Objektiv vorbei. Das Rauchen symbolisiert ihre Haltung zu ihrer Arbeit: Eine Achtlosigkeit und Ungenauigkeit, die sich nachher in der Qualität der Beiträge niederschlägt und in der Konsequenz in der Meinung, die sie produzieren – und letztendlich dann in der Politik, die diese Meinung nach sich zieht.
Auf einmal kommt ein Anruf, der Chef des größeren Teams sagt: »Los, wir fahren ins centro [das Aufnahmelager für Geflüchtete, Anm. des Autors].« Sie vereinbaren mit einem anderen Kamerateam, dass diese sie anrufen werden, falls Frauen dabei sind. »Das wäre noch schön im Bild.« Dann verschwinden sie.
Als die Fähre ankommt, kommt Leben auf die Mole. Die Einheimischen holen ihre Verwandten ab, machen sich zur Abreise bereit, Geschäftsleute holen ihre Waren ab. Diese andere, alltägliche Seite der Fähre als Schrittmacher der Insel bleibt vom Medienrummel und dem Polizeiaufgebot völlig unberührt. Wenn die Fähre am Dock liegt, ändert sich immer noch schlagartig die Stimmung. Lampedusa ist in diesen Stunden weniger Insel.
Ich verlege mich darauf, zu beobachten, was die Reporter_innen sehen, was sie in den Fokus nehmen. Ein Reporter steht vor dem Namenszug der Fähre und brüllt ins Mikrofon: »Heute um 9.45h läuft die Fähre Palladio der Fährgesellschaft Siremar nach über einer Woche wieder in Lampedusa ein.« Sie drehen mehrere Wiederholungen dieses einen Satzes.
Das Beladen der Fähre dauert immer Stunden. Der Bus des centro bringt Geflüchtete her, die nach Sizilien verlegt werden sollen. Es ist unglaublich viel Polizei da, mehr als jemals zuvor, und jede Menge Journalist_innen, Fernsehteams, Fotograf_innen. Der Bus kommt zwei oder drei Mal. Wieder beobachte ich die Aufregung der Journalist_innen, denn eigentlich gibt es nichts zu sehen: gepflegte Männer, die auch Italiener sein könnten, entsteigen einem Bus und gehen durch ein von der Polizei gebildetes Spalier zur Fähre. Einer ruft den Journalist_innen zu: »Alemania.« Einige winken oder lächeln den Journalist_innen zu. Einige winken zurück. Eine Frau des UNHCR gibt ein Interview. Als die Geflüchteten an Bord sind, zerstreuen sich die Journalist_innen rasch.
Später auf der via Roma treffe ich nur noch zwei Tunesier. Ich frage sie, wieso außer ihnen niemand hier ist: »Wir sind ins centro gerufen worden, viele von uns werden heute nach Sizilien verlegt.« Aber es geht der Polizei offenbar noch um etwas anderes: wenn die Fähre kommt, bekommt die Insel ein Schlupfloch. Dann muss aufgepasst werden, dass niemand entkommt. So erklärt sich wohl das noch erhöhte Polizeiaufgebot im Dorf und an der Mole. Die LKW-Kontrollen an der Fähre waren heute allerdings sehr lax, vielleicht liegen ja Menschen unter den Planen versteckt. Vielleicht hofft das die Regierung sogar auch. Die Journalist_innen produzieren ja schöne Beweisbilder, wie engagiert die Polizei aufpasst. Denn die Obstplantagen Siziliens und Kalabriens brauchen die illegalisierten billigen Arbeitskräfte (Reckinger 2018/ Reckinger 2020).
Nachmittags fahre ich mit dem Moped aufs Land hinaus. Ich überhole mehrere Jogger, wohl Polizisten, sie bringen ihr großstädtisches Leben mit hierher, aber es passt irgendwie nicht her. Sie stehen in Kontrast zu den drei Schäfern, die mit ihren Ziegenherden durch die karge Landschaft ziehen, wie aus einer anderen Zeit.
Am Abend trinke ich einen Kaffee mit einem Aussteiger aus Frankreich. Seit drei Monaten ist er in Lampedusa. Die Insel zieht nicht nur Polizei, Journalist_innen, Tourist_innen und Künstler_innen an, sondern auch Aktivist_innen, Aussteiger_innen und allerlei bunte Vögel (auch Ethnolog_innen wie mich). Er erzählt mir, dass er letztens mit einem Tunesier einen Kaffee trinken gegangen ist. Sie hätten Plastikbecher bekommen, aber die Einheimischen tranken wie gewohnt aus Keramiktassen. Die lampedusani würden das so verlangen, weil sie Angst vor ansteckenden Krankheiten haben. Ich bin wie vom Schlag getroffen. In den Bars, die ich bisher besucht habe, war das nicht so. Eine Jugendliche und die Inhaberin der Bar bestätigen es. »Rassisten«, sagt das Mädchen. Auch die Inhaberin schimpft darüber, aber nachher dreht sie das Ganze doch wieder zurecht, als sie sagt, dass trotz dieser inakzeptablen Haltung die Aufnahme der Migrant_innen immer ausgezeichnet gewesen sei. Die lampedusani gefallen (und gefielen sich schon immer) in der Rolle der Aufnehmenden. Sie hatten immer die noble Rolle, arme Opfer aus der Lebensgefahr zu befreien. Dann wurden sie ausgeflogen, und die hässlichen Dinge wie Identifikation, das Befinden über Ja oder Nein, das Abschieben oder Untertauchenlassen, und vor allem die Anwesenheit der Fremden in ihren Straßen und auf ihrem Arbeitsmarkt, das war ausgelagert. Offshore outsourcing in umgekehrter Richtung: von der Insel auf den Kontinent. Das wurde mir heute deutlich vor Augen geführt: wenn die Fähre da ist, besteht eine Verbindung zum Festland. Die Insel bekommt eine vorübergehende Brücke, und das wird neben der bereits beschriebenen Euphorie auch als nicht zu unterschätzende Gefahr gesehen. Das ist wohl ein Merkmal von Insularität, wo das Familiäre Sicherheit bedeutet und wo dem Außen alle Eigenschaften des Fremden zugeschrieben werden (denn immerhin ist Lampedusa in Italien, in Europa, im Westen), während das Innere homogener gesehen wird, als es tatsächlich ist.
Fast Winter
Seit heute Morgen sitzen wir in Lampedusa fest, weil der aliscafo [das Tragflächenboot, Anm. des Autors] und die Fähre nicht fahren. Bereits gestern hatte Aldo uns gesagt: »Es kommt Wind auf. Ich glaube, ihr werdet noch eine Weile hierbleiben.« Natürlich war uns klar, dass man damit in Lampedusa immer rechnen muss, aber im Sommer passiert es selten, dass sowohl das Tragflächenboot als auch die Fähre nicht anlegen. Für ein paar Minuten denken wir an unsere Termine und Verpflichtungen zu Hause, aber in Lampedusa verlieren sie schnell an Bedeutung. Man ist gezwungen, sich dem Meer zu ergeben.
Mit dem Wind kühlt es auch etwas ab. Obwohl das Treiben des Tourismus nicht abgenommen hat – man sieht jetzt sogar im Gegenteil mehr Menschen auf den Straßen, weil keine Boote auslaufen können – ändert sich die Stimmung. Es scheint, als sei für die lampedusani die Unterbrechung des Kontaktes mit dem Außen eine willkommene Abwechslung, ein Verschnaufen. Die Tourist_innen, die meist mit dem Flugzeug auf die Insel kommen, scheinen davon keine Notiz zu nehmen.
Ein Paar aus Rom, Mitte 30, nimmt mich in ihrem Mietauto mit. Sie sind zum ersten Mal in Lampedusa, aber es gefällt ihnen nicht. Sie sind enttäuscht, weil alles so chaotisch ist. »Ja, das Meer ist wunderschön, das Wetter, die Spiaggia dei Conigli [der Strand der Kaninchen, das touristische Wahrzeichen der Insel, Anm. des Autors], aber es gibt keine Organisation: keine Spazierwege, das Mietauto ist alt, man kann nichts machen außer am Strand liegen.« Sie werden nicht wiederkommen. Ich denke an den Rhythmus des Winters, an den die momentane Isolation erinnert, und bin froh, dass ich dieses andere Lampedusa zuerst kennen gelernt habe.
Am zweiten Tag, an dem wir festsitzen, treffe ich Aldo auf der via Roma. Er sitzt mit einem Arbeitskollegen und einem Freund vor der Bar Isola delle Rose. Ich setze mich dazu und trinke einen Kaffee mit ihnen. Sie reden über Insularität – das ständige Sprechen über die Identität schafft natürlich auch Identität, das ist ein Spezifikum der Inseln und überhaupt jener Orte, die sich in ihrer Position bedroht oder unsicher fühlen – und der Freund erzählt, dass er Lampedusa vor 15 Jahren verlassen hat. Er arbeitet jetzt als Elektriker in Rom, aber ein Insulaner sei er immer noch. Jeden Sommer kommt er her. »Ich schreibe jedes Mal Gedichte hier.« Aldo und der andere bestätigen, dass er »ein Poet« sei. In Lampedusa geben viele – vor allem Männer – an, Gedichte zu schreiben. Abgesehen von Hans Magnus Enzensbergers Feststellung, dass es mehr Leute gibt, die Lyrik schreiben, als solche, die sie lesen, begünstigt die Konstruktion von Insularität: die Vorstellung, aus dem Eigenen schöpfen zu müssen (und zu können). Vielleicht ist es das, was die Anthropologin Giulia meint, wenn sie davon spricht, dass jede/r Insulaner_in eine eigene Insel auf einer Insel sei.
Hier sitzen wir in der improvisierten Fußgängerzone auf der via Roma und es ist wieder wie im Winter: Es gibt genug Zeit, zu plaudern, so als gäbe es keine Tourist_innen. Die lampedusani scheinen das Ausbleiben der Fähre tatsächlich zu brauchen, so wie es Tino beschrieben hatte: Es handelt sich um den identitären Diskurs des Verlassenseins, aber zugleich auch der (temporären) Freiheit von der Hektik des Festlandes, die mit den Schiffen (mehr als mit den Flugzeugen) – wenn auch in abgeschwächter Form – auf die Insel übergreift.
Am Morgen des vierten Tages holt uns Aldo ab. Der aliscafo fährt heute vielleicht wieder – der Kapitän entscheidet das sehr kurzfristig – es wäre gut, dann im Hafen zu sein. Tatsächlich können wir an Bord gehen. Das Meer ist aufgewühlt, das Boot fällt in jedes Wellental. In Linosa steigt eine Gruppe junger italienischer Sunnyboys zu. Als das Boot ablegt, wimmern sie bei jeder Welle. Ein paar Frauen, deren Kindern ganz tapfer sind, schauen sie strafend an, bis sie still sind. Wenige Minuten nach dem Ablegen in Linosa hangelt sich ein Matrose wankend durch die Reihen und verteilt wortlos Plastiktüten.
Einige werden seekrank. Wir halten uns gut an den Lehnen fest, konzentrieren uns auf den trivialen Actionfilm, der gezeigt wird und überstehen die Fahrt unbeschadet. Erst kurz vor Sizilien beruhigt sich das Meer. Unter diesen Umständen ist Sizilien eine Ewigkeit entfernt.
Literatur
Lefebvre, Henri/ Régulier, Catherine (2001 [1986]): Versuch der Rhythmusanalyse der Mittelmeerstädte, Kassel/Graz 2001 (=Essai de rythmanalyse des villes méditerranéennes, Peuples Méditerranéens 37, 5-16).
Odasso, Laura/ Proglio, Gabriele (2018): General Introduction, In: Proglio, Gabriele/ Odasso, Laura (Hg.): Border Lampedusa. Subjectivity, Visibility and Memory in Stories of Sea and Land, Cham, 1-12.
Reckinger, Gilles (2013): Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas, Wuppertal (3. Aufl. 2015).
Reckinger, Gilles (2016): Lampedusa. Incontri ai confini d’Europa, Milano – Udine.
Reckinger, Gilles (2018): Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa, Wuppertal (2. Aufl. 2019).
Reckinger, Gilles (2020): Arance Amare. Un nuovo volto della schiavitù in Italia, Milano – Udine.
»Lampedusa is many things to many people« (Odasso/ Proglio 2018)
1. Kartierungen
Lampedusa ist die Mitte des Mittelmeers, und das ist keine Frage einer eurozentristisch verstellten Perspektive. Von hier ist es fast gleich weit nach Gibraltar wie nach Beirut, nach Sfax wie nach Catania. (Im Gegensatz zu seiner Nachbarinsel Linosa, mit der es eine Gemeinde bildet, liegt Lampedusa jedoch auf der afrikanischen Kontinentalplatte, somit jedenfalls nicht in Europa, zu dem es nur politisch und auf der Ebene der imaginaires gehört.)
Lampedusa ist für Medien, Politik und europäische Öffentlichkeit »die Insel der Bootsflüchtlinge« und daher – seit mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder – in der Mitte der Aufmerksamkeit in Bezug auf die Bootsmigration über das Mittelmeer. (Kaum mehr als Projektionsraum für Phantasmen, und dann wieder komplett vergessen.)
Lampedusa ist die Insel, die anscheinend 1986 nur knapp von Gaddafis Raketen verfehlt wurde und damit zumindest kurzfristig in der Mitte geostrategischer bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen »dem Westen« und »dem Orient« stand. (Auch wenn gerne von der jahrhundertelangen friedlichen interreligiösen Koexistenz auf Lampedusa gesprochen wird, gibt es davon wenig zu berichten. Dass über die Jahrhunderte alle möglichen Mittelmeerreisenden hier vorbei gekommen und wieder fortgefahren sind, darf angenommen werden. Und seit den Schlagzeilen aus dem Jahr 1986 wissen zumindest die Italiener_innen des Festlandes von der Existenz der Insel.)
Lampedusa ist für die fünfeinhalbtausend Italiener_innen, die auf diesem neun Kilometer langen Felsen leben – nein, so gut wie keine Ausländer_innen –, die Mitte ihrer Welt. (Oft wochenlang ausbleibende Versorgungsfähre aus Sizilien inklusive.)
2. Rhythmusanalytische Überlegungen zu Lampedusa
Henri Lefebvres und Catherine Réguliers Ansatz der Rhythmusanalyse (2001 [1986]) setzt an den großen Städten des Mittelmeerraums an. Lampedusa hingegen ist winzig, schert aber auch aus anderen Gründen – für manche vielleicht unerwartet – aus den von Lefebvre/ Régulier beschriebenen mittelmeerischen Gemeinsamkeiten aus. Keine Zitadelle, keine Treppen. Keine baulichen Spuren, die auf historische Begegnungs- und Aushandlungsräume zwischen Nord und Süd, Ost und West hinweisen. Kein einziges bedeutendes historisches Ereignis zwischen der Antike und 1986, und selbst die Frage, ob Gaddafi nun Raketen in Richtung Lampedusa abgefeuert hat oder nicht, ist umstritten. Keine Blütezeit und also kein Niedergang, sondern Langeweile und Stillstand als Dauerzustand. Nur die Erzählung von einem Eremiten, der den religiösen Kult für die vorbeikommenden Muslim_innen und Christ_innen durchgeführt haben soll.
Die Insel ist dennoch oder gerade deshalb außerordentlich geeignet für eine rhythmusanalytische Begehung. Vielleicht, weil sie so klein ist, dass sie, um ein häufig von lampedusani, den Einwohner_innen Lampedusas, benutztes Bild zu zitieren, wie ein kleines Boot auf den Wellen des Meeres tanzend, mal hierhin, dann dorthin getrieben wird, sich in die eine oder andere Richtung neigt und wieder zurück, und immer bleibt ein bisschen etwas übrig, wird mitgenommen und Teil der Insel. In jedem Fall aber aufgrund der gegenhegemonialen Praxen weiter Teile der lampedusani.
Die seit der vom Königreich beider Sizilien organisierte Besiedlung Lampedusas um 1840 – aus strategischen Gründen: die expansionsorientierte Seemacht Großbritannien saß neunzig Kilometer östlich in Malta – führte von Anfang an für die Bevölkerung nicht zum erhofften und vor allem versprochenen Wohlstand. Dass ab 1878 zusätzlich immer mehr Verbannte auf die Insel gebracht wurden, stärkte nicht gerade die Begeisterung für und die Identifizierung mit dem Staat. Die identitären Verarbeitungsstrategien dieser familiären Geschichten bewegen sich heute zwischen Glorifizierung des Pioniergeistes der Vorfahren oder ihrer politischen – oft anarchistischen oder kommunistischen – politischen Orientierung, oder Scham für den – oft nur angenommenen, weil nicht mehr belegbaren – kriminellen oder staatsgefährdenden Makel in der Familie.
Die Abhängigkeit der Insel von Versorgungslieferungen bestand seit den Anfängen der Besiedlung und dauert bis heute an. Die aufgrund der seit 180 Jahren nicht in Gang kommenden ökonomischen Entwicklung erlebte Abwesenheit des Staates fördert in der lokalen Bevölkerung Identitätskonstruktionen jenseits hegemonialer zentralistischer Vorstellungen (Lefebvre/ Régulier 2001, 10) und eine Haltung von Freiheit außerhalb des Staates (Lefebvre/ Régulier 2001, 8), die bisweilen deutlich anarchische Züge annimmt, etwa in der inkorporierten Weigerung sämtlicher lampedusani, sich beim Autofahren anzuschnallen, oder ihrer freien Interpretation von Bauvorschriften, Verkehrsregeln und anderen Gesetzen.
»Wir sind Afrikaner«, hört man immer wieder: so arm wie die Menschen in Afrika, aber nicht so durchtrieben wie die Italiener_innen auf dem Festland, wie mir ein lampedusano erklärte – wobei in Lampedusa Sizilien oft als Referenzort genommen wird: so groß, quasi schon Festland.
Hinzu kommt die Entfremdung von Italien, das in den Augen der lokalen Bevölkerung kontinuierlich Politik auf dem Buckel der Insel macht: etwa über die Art, wie Rom die Verwaltung der Bootsmigration organisiert bzw. instrumentalisiert, oder über die Stationierung von Militärverbänden auf der Insel, aber auch wegen der oft versprochenen und nie umgesetzten steuerlichen Erleichterungen für die Gemeinde. Das distanzierte Verhältnis zu Italien – zu dessen politischer Hegemonie es freilich aktuell keine Alternative gibt – und die exponierte Lage am Rande Europas lässt auch in Lampedusa einen »metastabilen Zustand des Polyrhythmischen« spürbar werden, »einer Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Bewegungen und Tempi, die in Prozessen der langen Dauer geformt wurden.« (Lefebvre/ Régulier 2001, 5)
Die musikalischen Anklänge der Begrifflichkeit Lefebvres und Réguliers legen eine Beschäftigung mit Klängen, Geräuschen – soundscapes – und Takt bzw. Rhythmen nahe.
Auf ersteres einzugehen kann an dieser Stelle kaum geleistet werden, abgesehen von der Erwähnung der Geräuschkulisse der omnipräsenten Mopeds, die Lampedusa unmittelbar einer weit verbreiteten Vorstellung Italiens zuordnen, und der Unüberhörbarkeit jeglicher regulärer Personentransferverbindung von und nach außen (startende und landende Flugzeuge bzw. das dumpfe Dröhnen der Versorgungsfähre), die die ansonsten vorherrschende Stille unterbrechen. Zu letzterem komme ich weiter unten.
Ich möchte im Folgenden drei Ebenen der in Lampedusa relevanten Rhythmen in den Blick nehmen. Beginnen werde ich mit der historisch rezentesten Rhythmisierung durch die Bootsmigration, auch weil die imaginaires um die Insel sich derart macht- und wirkungsvoll in die europäische doxa eingeschrieben haben, dass sich der Blick erst nach der Thematisierung dieses medial vermittelten Notstandsblocks – der doch längst zum strukturellen Dauerzustand geworden ist – auf anderes, möglicherweise Erhellenderes richten kann.
Bootsmigration
Historisch neu ist die Bootsmigration keineswegs, denn sie begann nach und nach in den 1990er Jahren und ist seit zwanzig Jahren eine Realität im Alltag der lampedusani.
Mit dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens begannen sporadisch Boote in Lampedusa anzukommen, aber auch auf den Nachbarinseln, im bis heute medial völlig unbeachtet gebliebenen Linosa, in Pantelleria, Sizilien, aber auch in Kalabrien und sogar manchmal in Sardinien. Die Boote fuhren abhängig von der Ablagestelle dorthin, wo Wind und Wellen sie hintrugen. An den Orten, wo sie ankamen, gab es keine staatliche Infrastruktur, um diese entstehende Realität aufzufangen, also tat es die lokale Bevölkerung.
Viele lampedusani sprechen von dieser Zeit rückblickend positiv, weil es zu realen Begegnungen mit den Bootsmigrant_innen kam und kommen durfte. Die lampedusani nahmen die Leute mit zu sich nach Hause, gaben ihnen zu essen und ein Bett, und am Folgetag oder ein paar Tage später gingen sie mit den Menschen zur lokalen Polizeistation oder zum Zoll, den einzigen Repräsentationsinstanzen des Staates. Von dort wurden die Menschen, meistens mit der regulären Fähre, nach Sizilien und aufs Festland gebracht, wo ihr Aufnahmeverfahren begann. Dies ist sicherlich ein Grund, dass die lampedusani für »die Wahrnehmung der Vielfalt der Rhythmen ›des Anderen‹« sensibilisiert sind. (Lefebvre/ Régulier 2001, 10)
Das Ausmaß der Bootsanlandungen ist abhängig vom Wetter, also zumindest teilweise von der Jahreszeit. Das ist bis heute so. Diese Rhythmisierung der Bootsmigration wird von einigen lampedusani beschrieben, die die jahreszeitlichen Wanderungen der Wale und der unechten Karettschildkröte in einem Atemzug nennen, um zu unterstreichen, dass sie Bewegung im Mittelmeerraum als Normalfall, als etwas Natürliches sehen, das keiner moralischen Bewertung zu unterliegen hat. »Du bist einer, der sich aus diesem Meer rausgerettet hat? Du hast das alles auf dich genommen, um bis hierher zu kommen? Setz dich hin, mach’s dir bequem, ich helfe dir,« formulierte es eine lampedusana (Reckinger 2013, 79/ Reckinger 2016).
In diesem Zusammenhang wichtiger ist aber die Rhythmisierung durch wechselnde mediale Konjunkturen. Erst als in den 1990er Jahren das Phänomen zahlenmäßig bedeutender wurde und die italienische Politik sich dafür entschied, die Bootsmigration in Lampedusa zusammenzuführen, indem Verbände der Exekutive auf die Insel verlegt und ein erstes Lager für die Geflüchteten auf der Insel geschaffen wurde, kamen die Massenmedien auf den Plan. Sie produzierten nun die Bilder, die sich in die imaginaires der Europäer_innen eingeschrieben haben: volle Boote mit aus der Distanz aufgenommenen amorphen, meist schwarzen Gesichtern. Medial verbreitete Bilder, die erstmals in der Lage waren, irreguläre, heimliche, wie es in den romanischen Sprachen oft heißt, Migration darzustellen, herzustellen, urgence im Sinne Foucaults zu vermitteln. Je nach politischer Konjunktur wurden und werden diese Bilder mehr oder weniger regelmäßig in die Wohnzimmer geschickt, und je nach bildlicher Konjunktur werden unterschiedliche politische Maßnahmen gesetzt, wobei – in allen Ländern des globalen Nordens – eine kontinuierliche Verschärfung des Umgangs und eine Degradierung der menschenrechtlichen Lage zu verzeichnen ist.
In den letzten Jahren ist Lampedusa zugunsten einiger griechischer und zuletzt kanarischer Inseln wieder ein wenig aus dem Blickfeld geraten. Diese konjunkturabhängige politische Bedeutung und Instrumentalisierung als Stück Italien und Europa steht im Gegensatz zu Henri Lefebvres und Catherine Réguliers, aber auch zum ethnographischen Zugang, der sich für die Widerständigkeiten des Alltags interessiert. Tatsächlich widersetzten und widersetzen sich die lampedusani, indem sie die Zeit besetzt halten und sich ihr widersetzen (Lefebvre/ Régulier 2001).
Der extrem verlangsamte Alltag auf der Insel kann so tatsächlich als Widerstandsstrategie gelesen werden, wie die nächsten beiden Punkte verdeutlichen. Denn mit der staatlichen und europäischen Orchestrierung des Spektakels der Grenze sind die lampedusani Zug um Zug von der Begegnung mit den Bootsmigrant_innen ausgeschlossen worden. Von der Rettung auf See über die Ankunft im Hafen und die Unterbringung im Aufnahmelager bis zur Verlegung auf das Festland kontrolliert die öffentliche Hand die Prozesse weitgehend lückenlos – eine Entfremdung, die manche lampedusani beklagen. Einerseits fühlen sie sich zu recht von der zum Ehrenkodex von Inselgesellschaften gehörenden Möglichkeit ausgeschlossen, Schiffbrüchigen unmittelbar Hilfe zu leisten. Andererseits erfahren sie, wie Italien und Europa auf dem Rücken der Insel und der Menschen, die hier leben – Einheimische und Geflüchtete – Politik machen, ohne ihre Lebenswelten und spezifischen Bedingungen zu berücksichtigen. Ein lampedusano sagte mir: »Es ist die Invasion der Journalisten, und nicht der Immigranten, denn sie [die Journalist_innen, Anm. des Autors] tragen ihre eigenen Bilder und Vorstellungen hinaus. Ich habe die Bilder im Fernsehen gesehen. Das ist doch nicht Lampedusa. Wenn du herkommst, wirst du nichts von dem, was du dort gesehen hast, wiederfinden. Und nichts von dem, was du hier siehst, kommt im Fernsehen.« (Reckinger 2013, 200/ Reckinger 2016)
Tourismus
Paradoxerweise war der hypothetische Beschuss der Insel durch Gaddafi im Jahr 1986 der Startschuss für den Tourismus in Lampedusa. Quasi über Nacht war der kleine Felsen vor Afrika der italienischen Bevölkerung – bereits damals: medial vermittelt – bekannt geworden. Seither steigen die Zahlen im Tourismus kontinuierlich (zuvor wurde Lampedusa nur gelegentlich von Abenteurer_innen und Hippies aufgesucht). Dabei zeigen sich in der Art und Weise, wie dieser Tourismus organisiert ist, einige strukturell bedingte Aspekte der Misswirtschaft in Lampedusa. Obwohl klimatisch gesehen das ganze Jahr über Tourismus möglich wäre, konzentriert sich der Tourismus auf wenige Monate im Hochsommer, und es handelt sich um ausschließlich bade- und partyorientierten Massentourismus, dessen Steuerung sich auch mangels qualifizierter lokaler Initiativen weitgehend in den Händen von Reiseveranstaltungskonzernen befindet. Fast die gesamte Bevölkerung lebt im Sommer vom Tourismus, und eine/r versucht den/die andere/n mit den immer gleichen Angeboten zu überbieten: Inselumrundungen mit dem Boot, Vermietung von alten Citroën Méhari, Abendessen im familieneigenen Restaurant. Andere, nachhaltigere Aktivitäten werden kaum angeboten. Alle sind rund um die Uhr auf den Beinen, arbeiten, verbreiten Partystimmung, übertönen die anderen. Lampedusa im Sommer ist laut und aufgeregt. Die via Roma, die Hauptstraße des Ortes, wird im Juli und August für den Verkehr gesperrt und zur überfüllten Flanier- und Partymeile umfunktioniert. Bis weit in die Nacht ertönen Popmusik, Stimmengewirr und der Klang der Absätze im Gleichschritt der passeggiata. Mit dem letzten Charterflug im September bricht diese Welt augenblicklich zusammen. Das Schrille und Grelle verschwindet und unmittelbar macht sich die alljährliche winterliche Lethargie breit, mit einer Arbeitslosigkeitsrate von achtzig Prozent.
Infrastruktur
Die für den Alltag der Inselbewohner_innen relevantesten, nicht nur jahreszeitlich bedingten Rhythmisierungen zeigen sich – im Übrigen kontinuierlich seit der Besiedlung Mitte des 19. Jahrhunderts – auf der Ebene der Infrastruktur. Die Elektrizitätsproduktion mittels Dieselgeneratoren ist instabil und regelmäßig fällt der Strom aus. Dann wird Lampedusa zu einem der dunkelsten Orte der Welt. Regelmäßig fallen auch Telefon und Internet aus, wenn wieder einmal das Untersee-Telekommunikationskabel von vor der Insel kreuzenden Fischtrawlern oder den Ankern der sizilianischen Fischerboote beschädigt wurde.
Wichtiger ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass Lampedusa von jahreszeitlichen und der Misswirtschaft geschuldeten Versorgungsengpässen geprägt ist. Da es keine eigenen Wasservorkommen auf der Insel gibt, wird Meerwasser aufbereitet und in die Wasserleitungen eingespeist, zusätzlich zu Süßwasser, das regelmäßig vom Militär mit einem Tankschiff angeliefert wird. Die Versorgungs- und Personenfähre – einige Fischer beschrieben sie als seeuntüchtigen Schrotthaufen – kann bereits bei mäßigem Wellengang nicht mehr im Hafen anlegen, auch wenn sich die Situation inzwischen mit der Anlage eines EU-finanzierten alternativen Anlegepunkts an der dem Wind abgewendeten Seite der Insel geringfügig gebessert hat. Die Fähre bleibt dann oft wochenlang aus, was auch daran liegt, dass die Betreibergesellschaft in den langen Wintermonaten mit dem Betrieb kaum Geld verdienen kann und die meteorologischen Bedingungen oft nur als Rechtfertigung für die Einstellung des Betriebs vorschiebt (allerdings erhält sie für die gesetzlich vorgeschriebene Aufrechterhaltung der Verbindung und trotz der Nichterfüllung dieses Auftrags weiterhin staatliche Subventionen). In diesem Zeitraum kann man beobachten, wie von Tag zu Tag die Produkte in den Geschäften weniger werden und die Obst- und Gemüsehändler_innen nach und nach immer trauriger aussehende Ware anbieten, bis kaum noch frische Lebensmittel zu bekommen sind.
Viele der Lehrer_innen in der einzigen Sekundarschule der Insel wohnen in Sizilien. Wenn die Fähre ausbleibt, fällt oft auch der Unterricht aus, was die ohnehin angespannte Ausbildungssituation auf der Insel noch verschärft. In geringerem Ausmaß ist auch die medizinische Versorgung von der Fähre abhängig. Abgesehen von einem Ärzt_innennotdienst, der immer vor Ort erreichbar ist, kommen Fachärzt_innen ebenfalls von außen auf die Insel, allerdings oft mit dem Flugzeug. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die temporäre Auswanderung der Frauen fürs Gebären bzw. ihrer Babys fürs Geborenwerden ein prägender, von allen geteilter biografischer Einschnitt. Da die medizinische Versorgung unzureichend ist und keine Geburtsklinik vorhanden ist, verlassen Schwangere (in der Regel aus finanziellen Gründen viel zu spät) die Insel, um die letzten Tage, bzw. bestenfalls ein paar Wochen bei Verwandten auf dem Festland oder in Hotels zu verbringen, um sich und ihr Kind nicht zu gefährden. Seit Jahrzehnten werden auf der Insel keine Kinder mehr geboren (außer es kommt eine Bootsmigrantin in den Wehen an).
3. Polyrhythmische Widersprüche atmosphärisch
Ich möchte im letzten Teil meines Beitrags zwei solcher Situationen aus den Jahren 2011 und 2010 beschreiben (siehe Reckinger 2013/ Reckinger 2016). Sie mögen die polyrhythmischen Widersprüche (Lefebvre/ Régulier 2001, 10) und die »Allianz im Kompromiss« (Lefebvre/ Régulier 2001, 9) vielleicht sinnlich erfahrbar machen.
Keine Insel
Normalerweise höre ich jeden Morgen beim Aufwachen das dumpfe, das ganze Dorf erfüllende Dröhnen der Schiffsmotoren: die Fähre hat angelegt. Wenn ich noch schlaftrunken auf die Terrasse trete, erfüllt ihr Dieselgestank bereits die gesamte Umgebung.
Doch seit über einer Woche war die Luft stets klar gewesen, die einzigen Geräusche, die die Insel charakterisierten, waren entfernt beschleunigende Mopeds und zwei Mal am Tag der durchs Dorf brüllende Flieger nach Palermo. Heute Morgen soll die Fähre aber wieder anlegen. Ich beginne, in meiner unmittelbaren Nachbar_innenschaft die Veränderung zu der Zeit davor zu spüren. Wo sonst alles still liegt, nun Stimmen, Aufregung, Autos, Mopeds, alles ist in Bewegung. Auch mich zieht es nun hinaus und in den Hafen, um dem Event der Ankunft beizuwohnen.
Im Hafen angekommen, steht kurz darauf ein italienischer Journalist mit Fernsehkamera neben mir. Er kommt aus Palermo und berichtet für einen Regionalsender. Er ist 56. Er beklagt sich, dass er keine Lust mehr hat, weil er für die Lokalnachrichten immer überall hinfahren muss – meistens eh nur zu Geschäftseröffnungen, Einbrüchen und Theatervorführungen. »Die lampedusani sind uns Journalisten gegenüber sehr ambivalent eingestellt: sie mögen uns nicht, sie wollen nicht, dass über die Flüchtlinge berichtet wird, zugleich wissen sie aber auch, dass es nicht unsere Schuld ist, dass sie hier sind, und dass ja doch irgendjemand darüber berichten muss.«
Es kommt noch ein Kameramann an. Dann kommt ein ganzes Team. Sie scherzen, rauchen und unterhalten sich über Kameratechnik. Ein weiteres Zweierteam kommt an, und ein einsamer Fotograf, später auch ein RTL-Team. Der RTL-Reporter ist sauber frisiert, mit teurer Wachsjacke und teurer Jeans, so, wie man sie im Fernsehen sieht. Später rauchen sie sogar während des Filmens, der Rauch zieht auch vor dem Objektiv vorbei. Das Rauchen symbolisiert ihre Haltung zu ihrer Arbeit: Eine Achtlosigkeit und Ungenauigkeit, die sich nachher in der Qualität der Beiträge niederschlägt und in der Konsequenz in der Meinung, die sie produzieren – und letztendlich dann in der Politik, die diese Meinung nach sich zieht.
Auf einmal kommt ein Anruf, der Chef des größeren Teams sagt: »Los, wir fahren ins centro [das Aufnahmelager für Geflüchtete, Anm. des Autors].« Sie vereinbaren mit einem anderen Kamerateam, dass diese sie anrufen werden, falls Frauen dabei sind. »Das wäre noch schön im Bild.« Dann verschwinden sie.
Als die Fähre ankommt, kommt Leben auf die Mole. Die Einheimischen holen ihre Verwandten ab, machen sich zur Abreise bereit, Geschäftsleute holen ihre Waren ab. Diese andere, alltägliche Seite der Fähre als Schrittmacher der Insel bleibt vom Medienrummel und dem Polizeiaufgebot völlig unberührt. Wenn die Fähre am Dock liegt, ändert sich immer noch schlagartig die Stimmung. Lampedusa ist in diesen Stunden weniger Insel.
Ich verlege mich darauf, zu beobachten, was die Reporter_innen sehen, was sie in den Fokus nehmen. Ein Reporter steht vor dem Namenszug der Fähre und brüllt ins Mikrofon: »Heute um 9.45h läuft die Fähre Palladio der Fährgesellschaft Siremar nach über einer Woche wieder in Lampedusa ein.« Sie drehen mehrere Wiederholungen dieses einen Satzes.
Das Beladen der Fähre dauert immer Stunden. Der Bus des centro bringt Geflüchtete her, die nach Sizilien verlegt werden sollen. Es ist unglaublich viel Polizei da, mehr als jemals zuvor, und jede Menge Journalist_innen, Fernsehteams, Fotograf_innen. Der Bus kommt zwei oder drei Mal. Wieder beobachte ich die Aufregung der Journalist_innen, denn eigentlich gibt es nichts zu sehen: gepflegte Männer, die auch Italiener sein könnten, entsteigen einem Bus und gehen durch ein von der Polizei gebildetes Spalier zur Fähre. Einer ruft den Journalist_innen zu: »Alemania.« Einige winken oder lächeln den Journalist_innen zu. Einige winken zurück. Eine Frau des UNHCR gibt ein Interview. Als die Geflüchteten an Bord sind, zerstreuen sich die Journalist_innen rasch.
Später auf der via Roma treffe ich nur noch zwei Tunesier. Ich frage sie, wieso außer ihnen niemand hier ist: »Wir sind ins centro gerufen worden, viele von uns werden heute nach Sizilien verlegt.« Aber es geht der Polizei offenbar noch um etwas anderes: wenn die Fähre kommt, bekommt die Insel ein Schlupfloch. Dann muss aufgepasst werden, dass niemand entkommt. So erklärt sich wohl das noch erhöhte Polizeiaufgebot im Dorf und an der Mole. Die LKW-Kontrollen an der Fähre waren heute allerdings sehr lax, vielleicht liegen ja Menschen unter den Planen versteckt. Vielleicht hofft das die Regierung sogar auch. Die Journalist_innen produzieren ja schöne Beweisbilder, wie engagiert die Polizei aufpasst. Denn die Obstplantagen Siziliens und Kalabriens brauchen die illegalisierten billigen Arbeitskräfte (Reckinger 2018/ Reckinger 2020).
Nachmittags fahre ich mit dem Moped aufs Land hinaus. Ich überhole mehrere Jogger, wohl Polizisten, sie bringen ihr großstädtisches Leben mit hierher, aber es passt irgendwie nicht her. Sie stehen in Kontrast zu den drei Schäfern, die mit ihren Ziegenherden durch die karge Landschaft ziehen, wie aus einer anderen Zeit.
Am Abend trinke ich einen Kaffee mit einem Aussteiger aus Frankreich. Seit drei Monaten ist er in Lampedusa. Die Insel zieht nicht nur Polizei, Journalist_innen, Tourist_innen und Künstler_innen an, sondern auch Aktivist_innen, Aussteiger_innen und allerlei bunte Vögel (auch Ethnolog_innen wie mich). Er erzählt mir, dass er letztens mit einem Tunesier einen Kaffee trinken gegangen ist. Sie hätten Plastikbecher bekommen, aber die Einheimischen tranken wie gewohnt aus Keramiktassen. Die lampedusani würden das so verlangen, weil sie Angst vor ansteckenden Krankheiten haben. Ich bin wie vom Schlag getroffen. In den Bars, die ich bisher besucht habe, war das nicht so. Eine Jugendliche und die Inhaberin der Bar bestätigen es. »Rassisten«, sagt das Mädchen. Auch die Inhaberin schimpft darüber, aber nachher dreht sie das Ganze doch wieder zurecht, als sie sagt, dass trotz dieser inakzeptablen Haltung die Aufnahme der Migrant_innen immer ausgezeichnet gewesen sei. Die lampedusani gefallen (und gefielen sich schon immer) in der Rolle der Aufnehmenden. Sie hatten immer die noble Rolle, arme Opfer aus der Lebensgefahr zu befreien. Dann wurden sie ausgeflogen, und die hässlichen Dinge wie Identifikation, das Befinden über Ja oder Nein, das Abschieben oder Untertauchenlassen, und vor allem die Anwesenheit der Fremden in ihren Straßen und auf ihrem Arbeitsmarkt, das war ausgelagert. Offshore outsourcing in umgekehrter Richtung: von der Insel auf den Kontinent. Das wurde mir heute deutlich vor Augen geführt: wenn die Fähre da ist, besteht eine Verbindung zum Festland. Die Insel bekommt eine vorübergehende Brücke, und das wird neben der bereits beschriebenen Euphorie auch als nicht zu unterschätzende Gefahr gesehen. Das ist wohl ein Merkmal von Insularität, wo das Familiäre Sicherheit bedeutet und wo dem Außen alle Eigenschaften des Fremden zugeschrieben werden (denn immerhin ist Lampedusa in Italien, in Europa, im Westen), während das Innere homogener gesehen wird, als es tatsächlich ist.
Fast Winter
Seit heute Morgen sitzen wir in Lampedusa fest, weil der aliscafo [das Tragflächenboot, Anm. des Autors] und die Fähre nicht fahren. Bereits gestern hatte Aldo uns gesagt: »Es kommt Wind auf. Ich glaube, ihr werdet noch eine Weile hierbleiben.« Natürlich war uns klar, dass man damit in Lampedusa immer rechnen muss, aber im Sommer passiert es selten, dass sowohl das Tragflächenboot als auch die Fähre nicht anlegen. Für ein paar Minuten denken wir an unsere Termine und Verpflichtungen zu Hause, aber in Lampedusa verlieren sie schnell an Bedeutung. Man ist gezwungen, sich dem Meer zu ergeben.
Mit dem Wind kühlt es auch etwas ab. Obwohl das Treiben des Tourismus nicht abgenommen hat – man sieht jetzt sogar im Gegenteil mehr Menschen auf den Straßen, weil keine Boote auslaufen können – ändert sich die Stimmung. Es scheint, als sei für die lampedusani die Unterbrechung des Kontaktes mit dem Außen eine willkommene Abwechslung, ein Verschnaufen. Die Tourist_innen, die meist mit dem Flugzeug auf die Insel kommen, scheinen davon keine Notiz zu nehmen.
Ein Paar aus Rom, Mitte 30, nimmt mich in ihrem Mietauto mit. Sie sind zum ersten Mal in Lampedusa, aber es gefällt ihnen nicht. Sie sind enttäuscht, weil alles so chaotisch ist. »Ja, das Meer ist wunderschön, das Wetter, die Spiaggia dei Conigli [der Strand der Kaninchen, das touristische Wahrzeichen der Insel, Anm. des Autors], aber es gibt keine Organisation: keine Spazierwege, das Mietauto ist alt, man kann nichts machen außer am Strand liegen.« Sie werden nicht wiederkommen. Ich denke an den Rhythmus des Winters, an den die momentane Isolation erinnert, und bin froh, dass ich dieses andere Lampedusa zuerst kennen gelernt habe.
Am zweiten Tag, an dem wir festsitzen, treffe ich Aldo auf der via Roma. Er sitzt mit einem Arbeitskollegen und einem Freund vor der Bar Isola delle Rose. Ich setze mich dazu und trinke einen Kaffee mit ihnen. Sie reden über Insularität – das ständige Sprechen über die Identität schafft natürlich auch Identität, das ist ein Spezifikum der Inseln und überhaupt jener Orte, die sich in ihrer Position bedroht oder unsicher fühlen – und der Freund erzählt, dass er Lampedusa vor 15 Jahren verlassen hat. Er arbeitet jetzt als Elektriker in Rom, aber ein Insulaner sei er immer noch. Jeden Sommer kommt er her. »Ich schreibe jedes Mal Gedichte hier.« Aldo und der andere bestätigen, dass er »ein Poet« sei. In Lampedusa geben viele – vor allem Männer – an, Gedichte zu schreiben. Abgesehen von Hans Magnus Enzensbergers Feststellung, dass es mehr Leute gibt, die Lyrik schreiben, als solche, die sie lesen, begünstigt die Konstruktion von Insularität: die Vorstellung, aus dem Eigenen schöpfen zu müssen (und zu können). Vielleicht ist es das, was die Anthropologin Giulia meint, wenn sie davon spricht, dass jede/r Insulaner_in eine eigene Insel auf einer Insel sei.
Hier sitzen wir in der improvisierten Fußgängerzone auf der via Roma und es ist wieder wie im Winter: Es gibt genug Zeit, zu plaudern, so als gäbe es keine Tourist_innen. Die lampedusani scheinen das Ausbleiben der Fähre tatsächlich zu brauchen, so wie es Tino beschrieben hatte: Es handelt sich um den identitären Diskurs des Verlassenseins, aber zugleich auch der (temporären) Freiheit von der Hektik des Festlandes, die mit den Schiffen (mehr als mit den Flugzeugen) – wenn auch in abgeschwächter Form – auf die Insel übergreift.
Am Morgen des vierten Tages holt uns Aldo ab. Der aliscafo fährt heute vielleicht wieder – der Kapitän entscheidet das sehr kurzfristig – es wäre gut, dann im Hafen zu sein. Tatsächlich können wir an Bord gehen. Das Meer ist aufgewühlt, das Boot fällt in jedes Wellental. In Linosa steigt eine Gruppe junger italienischer Sunnyboys zu. Als das Boot ablegt, wimmern sie bei jeder Welle. Ein paar Frauen, deren Kindern ganz tapfer sind, schauen sie strafend an, bis sie still sind. Wenige Minuten nach dem Ablegen in Linosa hangelt sich ein Matrose wankend durch die Reihen und verteilt wortlos Plastiktüten.
Einige werden seekrank. Wir halten uns gut an den Lehnen fest, konzentrieren uns auf den trivialen Actionfilm, der gezeigt wird und überstehen die Fahrt unbeschadet. Erst kurz vor Sizilien beruhigt sich das Meer. Unter diesen Umständen ist Sizilien eine Ewigkeit entfernt.
Literaturverzeichnis
Lefebvre, Henri/ Régulier, Catherine (2001 [1986]): Versuch der Rhythmusanalyse der Mittelmeerstädte, Kassel 2001 (=Essai de rythmanalyse des villes méditerranéennes, Peuples Méditerranéens 37, 5-16).
Odasso, Laura/ Proglio, Gabriele (2018): General Introduction, In: Proglio, Gabriele/ Odasso, Laura (Hg.): Border Lampedusa. Subjectivity, Visibility and Memory in Stories of Sea and Land, Cham, 1-12.
Reckinger, Gilles (2013): Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas, Wuppertal (3. Aufl. 2015).
Reckinger, Gilles (2016): Lampedusa. Incontri ai confini d’Europa, Milano – Udine.
Reckinger, Gilles (2018): Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa, Wuppertal (2. Aufl. 2019).
Reckinger, Gilles (2020): Arance Amare. Un nuovo volto della schiavitù in Italia, Milano – Udine.
»Lampedusa is many things to many people« (Odasso/ Proglio 2018)
1. Kartierungen
Lampedusa ist die Mitte des Mittelmeers, und das ist keine Frage einer eurozentristisch verstellten Perspektive. Von hier ist es fast gleich weit nach Gibraltar wie nach Beirut, nach Sfax wie nach Catania. (Im Gegensatz zu seiner Nachbarinsel Linosa, mit der es eine Gemeinde bildet, liegt Lampedusa jedoch auf der afrikanischen Kontinentalplatte, somit jedenfalls nicht in Europa, zu dem es nur politisch und auf der Ebene der imaginaires gehört.)
Lampedusa ist für Medien, Politik und europäische Öffentlichkeit »die Insel der Bootsflüchtlinge« und daher – seit mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder – in der Mitte der Aufmerksamkeit in Bezug auf die Bootsmigration über das Mittelmeer. (Kaum mehr als Projektionsraum für Phantasmen, und dann wieder komplett vergessen.)
Lampedusa ist die Insel, die anscheinend 1986 nur knapp von Gaddafis Raketen verfehlt wurde und damit zumindest kurzfristig in der Mitte geostrategischer bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen »dem Westen« und »dem Orient« stand. (Auch wenn gerne von der jahrhundertelangen friedlichen interreligiösen Koexistenz auf Lampedusa gesprochen wird, gibt es davon wenig zu berichten. Dass über die Jahrhunderte alle möglichen Mittelmeerreisenden hier vorbei gekommen und wieder fortgefahren sind, darf angenommen werden. Und seit den Schlagzeilen aus dem Jahr 1986 wissen zumindest die Italiener_innen des Festlandes von der Existenz der Insel.)
Lampedusa ist für die fünfeinhalbtausend Italiener_innen, die auf diesem neun Kilometer langen Felsen leben – nein, so gut wie keine Ausländer_innen –, die Mitte ihrer Welt. (Oft wochenlang ausbleibende Versorgungsfähre aus Sizilien inklusive.)
2. Rhythmusanalytische Überlegungen zu Lampedusa
Henri Lefebvres und Catherine Réguliers Ansatz der Rhythmusanalyse (2001 [1986]) setzt an den großen Städten des Mittelmeerraums an. Lampedusa hingegen ist winzig, schert aber auch aus anderen Gründen – für manche vielleicht unerwartet – aus den von Lefebvre/ Régulier beschriebenen mittelmeerischen Gemeinsamkeiten aus. Keine Zitadelle, keine Treppen. Keine baulichen Spuren, die auf historische Begegnungs- und Aushandlungsräume zwischen Nord und Süd, Ost und West hinweisen. Kein einziges bedeutendes historisches Ereignis zwischen der Antike und 1986, und selbst die Frage, ob Gaddafi nun Raketen in Richtung Lampedusa abgefeuert hat oder nicht, ist umstritten. Keine Blütezeit und also kein Niedergang, sondern Langeweile und Stillstand als Dauerzustand. Nur die Erzählung von einem Eremiten, der den religiösen Kult für die vorbeikommenden Muslim_innen und Christ_innen durchgeführt haben soll.
Die Insel ist dennoch oder gerade deshalb außerordentlich geeignet für eine rhythmusanalytische Begehung. Vielleicht, weil sie so klein ist, dass sie, um ein häufig von lampedusani, den Einwohner_innen Lampedusas, benutztes Bild zu zitieren, wie ein kleines Boot auf den Wellen des Meeres tanzend, mal hierhin, dann dorthin getrieben wird, sich in die eine oder andere Richtung neigt und wieder zurück, und immer bleibt ein bisschen etwas übrig, wird mitgenommen und Teil der Insel. In jedem Fall aber aufgrund der gegenhegemonialen Praxen weiter Teile der lampedusani.
Die seit der vom Königreich beider Sizilien organisierte Besiedlung Lampedusas um 1840 – aus strategischen Gründen: die expansionsorientierte Seemacht Großbritannien saß neunzig Kilometer östlich in Malta – führte von Anfang an für die Bevölkerung nicht zum erhofften und vor allem versprochenen Wohlstand. Dass ab 1878 zusätzlich immer mehr Verbannte auf die Insel gebracht wurden, stärkte nicht gerade die Begeisterung für und die Identifizierung mit dem Staat. Die identitären Verarbeitungsstrategien dieser familiären Geschichten bewegen sich heute zwischen Glorifizierung des Pioniergeistes der Vorfahren oder ihrer politischen – oft anarchistischen oder kommunistischen – politischen Orientierung, oder Scham für den – oft nur angenommenen, weil nicht mehr belegbaren – kriminellen oder staatsgefährdenden Makel in der Familie.
Die Abhängigkeit der Insel von Versorgungslieferungen bestand seit den Anfängen der Besiedlung und dauert bis heute an. Die aufgrund der seit 180 Jahren nicht in Gang kommenden ökonomischen Entwicklung erlebte Abwesenheit des Staates fördert in der lokalen Bevölkerung Identitätskonstruktionen jenseits hegemonialer zentralistischer Vorstellungen (Lefebvre/ Régulier 2001, 10) und eine Haltung von Freiheit außerhalb des Staates (Lefebvre/ Régulier 2001, 8), die bisweilen deutlich anarchische Züge annimmt, etwa in der inkorporierten Weigerung sämtlicher lampedusani, sich beim Autofahren anzuschnallen, oder ihrer freien Interpretation von Bauvorschriften, Verkehrsregeln und anderen Gesetzen.
»Wir sind Afrikaner«, hört man immer wieder: so arm wie die Menschen in Afrika, aber nicht so durchtrieben wie die Italiener_innen auf dem Festland, wie mir ein lampedusano erklärte – wobei in Lampedusa Sizilien oft als Referenzort genommen wird: so groß, quasi schon Festland.
Hinzu kommt die Entfremdung von Italien, das in den Augen der lokalen Bevölkerung kontinuierlich Politik auf dem Buckel der Insel macht: etwa über die Art, wie Rom die Verwaltung der Bootsmigration organisiert bzw. instrumentalisiert, oder über die Stationierung von Militärverbänden auf der Insel, aber auch wegen der oft versprochenen und nie umgesetzten steuerlichen Erleichterungen für die Gemeinde. Das distanzierte Verhältnis zu Italien – zu dessen politischer Hegemonie es freilich aktuell keine Alternative gibt – und die exponierte Lage am Rande Europas lässt auch in Lampedusa einen »metastabilen Zustand des Polyrhythmischen« spürbar werden, »einer Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Bewegungen und Tempi, die in Prozessen der langen Dauer geformt wurden.« (Lefebvre/ Régulier 2001, 5)
Die musikalischen Anklänge der Begrifflichkeit Lefebvres und Réguliers legen eine Beschäftigung mit Klängen, Geräuschen – soundscapes – und Takt bzw. Rhythmen nahe.
Auf ersteres einzugehen kann an dieser Stelle kaum geleistet werden, abgesehen von der Erwähnung der Geräuschkulisse der omnipräsenten Mopeds, die Lampedusa unmittelbar einer weit verbreiteten Vorstellung Italiens zuordnen, und der Unüberhörbarkeit jeglicher regulärer Personentransferverbindung von und nach außen (startende und landende Flugzeuge bzw. das dumpfe Dröhnen der Versorgungsfähre), die die ansonsten vorherrschende Stille unterbrechen. Zu letzterem komme ich weiter unten.
Ich möchte im Folgenden drei Ebenen der in Lampedusa relevanten Rhythmen in den Blick nehmen. Beginnen werde ich mit der historisch rezentesten Rhythmisierung durch die Bootsmigration, auch weil die imaginaires um die Insel sich derart macht- und wirkungsvoll in die europäische doxa eingeschrieben haben, dass sich der Blick erst nach der Thematisierung dieses medial vermittelten Notstandsblocks – der doch längst zum strukturellen Dauerzustand geworden ist – auf anderes, möglicherweise Erhellenderes richten kann.
Bootsmigration
Historisch neu ist die Bootsmigration keineswegs, denn sie begann nach und nach in den 1990er Jahren und ist seit zwanzig Jahren eine Realität im Alltag der lampedusani.
Mit dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens begannen sporadisch Boote in Lampedusa anzukommen, aber auch auf den Nachbarinseln, im bis heute medial völlig unbeachtet gebliebenen Linosa, in Pantelleria, Sizilien, aber auch in Kalabrien und sogar manchmal in Sardinien. Die Boote fuhren abhängig von der Ablagestelle dorthin, wo Wind und Wellen sie hintrugen. An den Orten, wo sie ankamen, gab es keine staatliche Infrastruktur, um diese entstehende Realität aufzufangen, also tat es die lokale Bevölkerung.
Viele lampedusani sprechen von dieser Zeit rückblickend positiv, weil es zu realen Begegnungen mit den Bootsmigrant_innen kam und kommen durfte. Die lampedusani nahmen die Leute mit zu sich nach Hause, gaben ihnen zu essen und ein Bett, und am Folgetag oder ein paar Tage später gingen sie mit den Menschen zur lokalen Polizeistation oder zum Zoll, den einzigen Repräsentationsinstanzen des Staates. Von dort wurden die Menschen, meistens mit der regulären Fähre, nach Sizilien und aufs Festland gebracht, wo ihr Aufnahmeverfahren begann. Dies ist sicherlich ein Grund, dass die lampedusani für »die Wahrnehmung der Vielfalt der Rhythmen ›des Anderen‹« sensibilisiert sind. (Lefebvre/ Régulier 2001, 10)
Das Ausmaß der Bootsanlandungen ist abhängig vom Wetter, also zumindest teilweise von der Jahreszeit. Das ist bis heute so. Diese Rhythmisierung der Bootsmigration wird von einigen lampedusani beschrieben, die die jahreszeitlichen Wanderungen der Wale und der unechten Karettschildkröte in einem Atemzug nennen, um zu unterstreichen, dass sie Bewegung im Mittelmeerraum als Normalfall, als etwas Natürliches sehen, das keiner moralischen Bewertung zu unterliegen hat. »Du bist einer, der sich aus diesem Meer rausgerettet hat? Du hast das alles auf dich genommen, um bis hierher zu kommen? Setz dich hin, mach’s dir bequem, ich helfe dir,« formulierte es eine lampedusana (Reckinger 2013, 79/ Reckinger 2016).
In diesem Zusammenhang wichtiger ist aber die Rhythmisierung durch wechselnde mediale Konjunkturen. Erst als in den 1990er Jahren das Phänomen zahlenmäßig bedeutender wurde und die italienische Politik sich dafür entschied, die Bootsmigration in Lampedusa zusammenzuführen, indem Verbände der Exekutive auf die Insel verlegt und ein erstes Lager für die Geflüchteten auf der Insel geschaffen wurde, kamen die Massenmedien auf den Plan. Sie produzierten nun die Bilder, die sich in die imaginaires der Europäer_innen eingeschrieben haben: volle Boote mit aus der Distanz aufgenommenen amorphen, meist schwarzen Gesichtern. Medial verbreitete Bilder, die erstmals in der Lage waren, irreguläre, heimliche, wie es in den romanischen Sprachen oft heißt, Migration darzustellen, herzustellen, urgence im Sinne Foucaults zu vermitteln. Je nach politischer Konjunktur wurden und werden diese Bilder mehr oder weniger regelmäßig in die Wohnzimmer geschickt, und je nach bildlicher Konjunktur werden unterschiedliche politische Maßnahmen gesetzt, wobei – in allen Ländern des globalen Nordens – eine kontinuierliche Verschärfung des Umgangs und eine Degradierung der menschenrechtlichen Lage zu verzeichnen ist.
In den letzten Jahren ist Lampedusa zugunsten einiger griechischer und zuletzt kanarischer Inseln wieder ein wenig aus dem Blickfeld geraten. Diese konjunkturabhängige politische Bedeutung und Instrumentalisierung als Stück Italien und Europa steht im Gegensatz zu Henri Lefebvres und Catherine Réguliers, aber auch zum ethnographischen Zugang, der sich für die Widerständigkeiten des Alltags interessiert. Tatsächlich widersetzten und widersetzen sich die lampedusani, indem sie die Zeit besetzt halten und sich ihr widersetzen (Lefebvre/ Régulier 2001).
Der extrem verlangsamte Alltag auf der Insel kann so tatsächlich als Widerstandsstrategie gelesen werden, wie die nächsten beiden Punkte verdeutlichen. Denn mit der staatlichen und europäischen Orchestrierung des Spektakels der Grenze sind die lampedusani Zug um Zug von der Begegnung mit den Bootsmigrant_innen ausgeschlossen worden. Von der Rettung auf See über die Ankunft im Hafen und die Unterbringung im Aufnahmelager bis zur Verlegung auf das Festland kontrolliert die öffentliche Hand die Prozesse weitgehend lückenlos – eine Entfremdung, die manche lampedusani beklagen. Einerseits fühlen sie sich zu recht von der zum Ehrenkodex von Inselgesellschaften gehörenden Möglichkeit ausgeschlossen, Schiffbrüchigen unmittelbar Hilfe zu leisten. Andererseits erfahren sie, wie Italien und Europa auf dem Rücken der Insel und der Menschen, die hier leben – Einheimische und Geflüchtete – Politik machen, ohne ihre Lebenswelten und spezifischen Bedingungen zu berücksichtigen. Ein lampedusano sagte mir: »Es ist die Invasion der Journalisten, und nicht der Immigranten, denn sie [die Journalist_innen, Anm. des Autors] tragen ihre eigenen Bilder und Vorstellungen hinaus. Ich habe die Bilder im Fernsehen gesehen. Das ist doch nicht Lampedusa. Wenn du herkommst, wirst du nichts von dem, was du dort gesehen hast, wiederfinden. Und nichts von dem, was du hier siehst, kommt im Fernsehen.« (Reckinger 2013, 200/ Reckinger 2016)
Tourismus
Paradoxerweise war der hypothetische Beschuss der Insel durch Gaddafi im Jahr 1986 der Startschuss für den Tourismus in Lampedusa. Quasi über Nacht war der kleine Felsen vor Afrika der italienischen Bevölkerung – bereits damals: medial vermittelt – bekannt geworden. Seither steigen die Zahlen im Tourismus kontinuierlich (zuvor wurde Lampedusa nur gelegentlich von Abenteurer_innen und Hippies aufgesucht). Dabei zeigen sich in der Art und Weise, wie dieser Tourismus organisiert ist, einige strukturell bedingte Aspekte der Misswirtschaft in Lampedusa. Obwohl klimatisch gesehen das ganze Jahr über Tourismus möglich wäre, konzentriert sich der Tourismus auf wenige Monate im Hochsommer, und es handelt sich um ausschließlich bade- und partyorientierten Massentourismus, dessen Steuerung sich auch mangels qualifizierter lokaler Initiativen weitgehend in den Händen von Reiseveranstaltungskonzernen befindet. Fast die gesamte Bevölkerung lebt im Sommer vom Tourismus, und eine/r versucht den/die andere/n mit den immer gleichen Angeboten zu überbieten: Inselumrundungen mit dem Boot, Vermietung von alten Citroën Méhari, Abendessen im familieneigenen Restaurant. Andere, nachhaltigere Aktivitäten werden kaum angeboten. Alle sind rund um die Uhr auf den Beinen, arbeiten, verbreiten Partystimmung, übertönen die anderen. Lampedusa im Sommer ist laut und aufgeregt. Die via Roma, die Hauptstraße des Ortes, wird im Juli und August für den Verkehr gesperrt und zur überfüllten Flanier- und Partymeile umfunktioniert. Bis weit in die Nacht ertönen Popmusik, Stimmengewirr und der Klang der Absätze im Gleichschritt der passeggiata. Mit dem letzten Charterflug im September bricht diese Welt augenblicklich zusammen. Das Schrille und Grelle verschwindet und unmittelbar macht sich die alljährliche winterliche Lethargie breit, mit einer Arbeitslosigkeitsrate von achtzig Prozent.
Infrastruktur
Die für den Alltag der Inselbewohner_innen relevantesten, nicht nur jahreszeitlich bedingten Rhythmisierungen zeigen sich – im Übrigen kontinuierlich seit der Besiedlung Mitte des 19. Jahrhunderts – auf der Ebene der Infrastruktur. Die Elektrizitätsproduktion mittels Dieselgeneratoren ist instabil und regelmäßig fällt der Strom aus. Dann wird Lampedusa zu einem der dunkelsten Orte der Welt. Regelmäßig fallen auch Telefon und Internet aus, wenn wieder einmal das Untersee-Telekommunikationskabel von vor der Insel kreuzenden Fischtrawlern oder den Ankern der sizilianischen Fischerboote beschädigt wurde.
Wichtiger ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass Lampedusa von jahreszeitlichen und der Misswirtschaft geschuldeten Versorgungsengpässen geprägt ist. Da es keine eigenen Wasservorkommen auf der Insel gibt, wird Meerwasser aufbereitet und in die Wasserleitungen eingespeist, zusätzlich zu Süßwasser, das regelmäßig vom Militär mit einem Tankschiff angeliefert wird. Die Versorgungs- und Personenfähre – einige Fischer beschrieben sie als seeuntüchtigen Schrotthaufen – kann bereits bei mäßigem Wellengang nicht mehr im Hafen anlegen, auch wenn sich die Situation inzwischen mit der Anlage eines EU-finanzierten alternativen Anlegepunkts an der dem Wind abgewendeten Seite der Insel geringfügig gebessert hat. Die Fähre bleibt dann oft wochenlang aus, was auch daran liegt, dass die Betreibergesellschaft in den langen Wintermonaten mit dem Betrieb kaum Geld verdienen kann und die meteorologischen Bedingungen oft nur als Rechtfertigung für die Einstellung des Betriebs vorschiebt (allerdings erhält sie für die gesetzlich vorgeschriebene Aufrechterhaltung der Verbindung und trotz der Nichterfüllung dieses Auftrags weiterhin staatliche Subventionen). In diesem Zeitraum kann man beobachten, wie von Tag zu Tag die Produkte in den Geschäften weniger werden und die Obst- und Gemüsehändler_innen nach und nach immer trauriger aussehende Ware anbieten, bis kaum noch frische Lebensmittel zu bekommen sind.
Viele der Lehrer_innen in der einzigen Sekundarschule der Insel wohnen in Sizilien. Wenn die Fähre ausbleibt, fällt oft auch der Unterricht aus, was die ohnehin angespannte Ausbildungssituation auf der Insel noch verschärft. In geringerem Ausmaß ist auch die medizinische Versorgung von der Fähre abhängig. Abgesehen von einem Ärzt_innennotdienst, der immer vor Ort erreichbar ist, kommen Fachärzt_innen ebenfalls von außen auf die Insel, allerdings oft mit dem Flugzeug. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die temporäre Auswanderung der Frauen fürs Gebären bzw. ihrer Babys fürs Geborenwerden ein prägender, von allen geteilter biografischer Einschnitt. Da die medizinische Versorgung unzureichend ist und keine Geburtsklinik vorhanden ist, verlassen Schwangere (in der Regel aus finanziellen Gründen viel zu spät) die Insel, um die letzten Tage, bzw. bestenfalls ein paar Wochen bei Verwandten auf dem Festland oder in Hotels zu verbringen, um sich und ihr Kind nicht zu gefährden. Seit Jahrzehnten werden auf der Insel keine Kinder mehr geboren (außer es kommt eine Bootsmigrantin in den Wehen an).
3. Polyrhythmische Widersprüche atmosphärisch
Ich möchte im letzten Teil meines Beitrags zwei solcher Situationen aus den Jahren 2011 und 2010 beschreiben (siehe Reckinger 2013/ Reckinger 2016). Sie mögen die polyrhythmischen Widersprüche (Lefebvre/ Régulier 2001, 10) und die »Allianz im Kompromiss« (Lefebvre/ Régulier 2001, 9) vielleicht sinnlich erfahrbar machen.
Keine Insel
Normalerweise höre ich jeden Morgen beim Aufwachen das dumpfe, das ganze Dorf erfüllende Dröhnen der Schiffsmotoren: die Fähre hat angelegt. Wenn ich noch schlaftrunken auf die Terrasse trete, erfüllt ihr Dieselgestank bereits die gesamte Umgebung.
Doch seit über einer Woche war die Luft stets klar gewesen, die einzigen Geräusche, die die Insel charakterisierten, waren entfernt beschleunigende Mopeds und zwei Mal am Tag der durchs Dorf brüllende Flieger nach Palermo. Heute Morgen soll die Fähre aber wieder anlegen. Ich beginne, in meiner unmittelbaren Nachbar_innenschaft die Veränderung zu der Zeit davor zu spüren. Wo sonst alles still liegt, nun Stimmen, Aufregung, Autos, Mopeds, alles ist in Bewegung. Auch mich zieht es nun hinaus und in den Hafen, um dem Event der Ankunft beizuwohnen.
Im Hafen angekommen, steht kurz darauf ein italienischer Journalist mit Fernsehkamera neben mir. Er kommt aus Palermo und berichtet für einen Regionalsender. Er ist 56. Er beklagt sich, dass er keine Lust mehr hat, weil er für die Lokalnachrichten immer überall hinfahren muss – meistens eh nur zu Geschäftseröffnungen, Einbrüchen und Theatervorführungen. »Die lampedusani sind uns Journalisten gegenüber sehr ambivalent eingestellt: sie mögen uns nicht, sie wollen nicht, dass über die Flüchtlinge berichtet wird, zugleich wissen sie aber auch, dass es nicht unsere Schuld ist, dass sie hier sind, und dass ja doch irgendjemand darüber berichten muss.«
Es kommt noch ein Kameramann an. Dann kommt ein ganzes Team. Sie scherzen, rauchen und unterhalten sich über Kameratechnik. Ein weiteres Zweierteam kommt an, und ein einsamer Fotograf, später auch ein RTL-Team. Der RTL-Reporter ist sauber frisiert, mit teurer Wachsjacke und teurer Jeans, so, wie man sie im Fernsehen sieht. Später rauchen sie sogar während des Filmens, der Rauch zieht auch vor dem Objektiv vorbei. Das Rauchen symbolisiert ihre Haltung zu ihrer Arbeit: Eine Achtlosigkeit und Ungenauigkeit, die sich nachher in der Qualität der Beiträge niederschlägt und in der Konsequenz in der Meinung, die sie produzieren – und letztendlich dann in der Politik, die diese Meinung nach sich zieht.
Auf einmal kommt ein Anruf, der Chef des größeren Teams sagt: »Los, wir fahren ins centro [das Aufnahmelager für Geflüchtete, Anm. des Autors].« Sie vereinbaren mit einem anderen Kamerateam, dass diese sie anrufen werden, falls Frauen dabei sind. »Das wäre noch schön im Bild.« Dann verschwinden sie.
Als die Fähre ankommt, kommt Leben auf die Mole. Die Einheimischen holen ihre Verwandten ab, machen sich zur Abreise bereit, Geschäftsleute holen ihre Waren ab. Diese andere, alltägliche Seite der Fähre als Schrittmacher der Insel bleibt vom Medienrummel und dem Polizeiaufgebot völlig unberührt. Wenn die Fähre am Dock liegt, ändert sich immer noch schlagartig die Stimmung. Lampedusa ist in diesen Stunden weniger Insel.
Ich verlege mich darauf, zu beobachten, was die Reporter_innen sehen, was sie in den Fokus nehmen. Ein Reporter steht vor dem Namenszug der Fähre und brüllt ins Mikrofon: »Heute um 9.45h läuft die Fähre Palladio der Fährgesellschaft Siremar nach über einer Woche wieder in Lampedusa ein.« Sie drehen mehrere Wiederholungen dieses einen Satzes.
Das Beladen der Fähre dauert immer Stunden. Der Bus des centro bringt Geflüchtete her, die nach Sizilien verlegt werden sollen. Es ist unglaublich viel Polizei da, mehr als jemals zuvor, und jede Menge Journalist_innen, Fernsehteams, Fotograf_innen. Der Bus kommt zwei oder drei Mal. Wieder beobachte ich die Aufregung der Journalist_innen, denn eigentlich gibt es nichts zu sehen: gepflegte Männer, die auch Italiener sein könnten, entsteigen einem Bus und gehen durch ein von der Polizei gebildetes Spalier zur Fähre. Einer ruft den Journalist_innen zu: »Alemania.« Einige winken oder lächeln den Journalist_innen zu. Einige winken zurück. Eine Frau des UNHCR gibt ein Interview. Als die Geflüchteten an Bord sind, zerstreuen sich die Journalist_innen rasch.
Später auf der via Roma treffe ich nur noch zwei Tunesier. Ich frage sie, wieso außer ihnen niemand hier ist: »Wir sind ins centro gerufen worden, viele von uns werden heute nach Sizilien verlegt.« Aber es geht der Polizei offenbar noch um etwas anderes: wenn die Fähre kommt, bekommt die Insel ein Schlupfloch. Dann muss aufgepasst werden, dass niemand entkommt. So erklärt sich wohl das noch erhöhte Polizeiaufgebot im Dorf und an der Mole. Die LKW-Kontrollen an der Fähre waren heute allerdings sehr lax, vielleicht liegen ja Menschen unter den Planen versteckt. Vielleicht hofft das die Regierung sogar auch. Die Journalist_innen produzieren ja schöne Beweisbilder, wie engagiert die Polizei aufpasst. Denn die Obstplantagen Siziliens und Kalabriens brauchen die illegalisierten billigen Arbeitskräfte (Reckinger 2018/ Reckinger 2020).
Nachmittags fahre ich mit dem Moped aufs Land hinaus. Ich überhole mehrere Jogger, wohl Polizisten, sie bringen ihr großstädtisches Leben mit hierher, aber es passt irgendwie nicht her. Sie stehen in Kontrast zu den drei Schäfern, die mit ihren Ziegenherden durch die karge Landschaft ziehen, wie aus einer anderen Zeit.
Am Abend trinke ich einen Kaffee mit einem Aussteiger aus Frankreich. Seit drei Monaten ist er in Lampedusa. Die Insel zieht nicht nur Polizei, Journalist_innen, Tourist_innen und Künstler_innen an, sondern auch Aktivist_innen, Aussteiger_innen und allerlei bunte Vögel (auch Ethnolog_innen wie mich). Er erzählt mir, dass er letztens mit einem Tunesier einen Kaffee trinken gegangen ist. Sie hätten Plastikbecher bekommen, aber die Einheimischen tranken wie gewohnt aus Keramiktassen. Die lampedusani würden das so verlangen, weil sie Angst vor ansteckenden Krankheiten haben. Ich bin wie vom Schlag getroffen. In den Bars, die ich bisher besucht habe, war das nicht so. Eine Jugendliche und die Inhaberin der Bar bestätigen es. »Rassisten«, sagt das Mädchen. Auch die Inhaberin schimpft darüber, aber nachher dreht sie das Ganze doch wieder zurecht, als sie sagt, dass trotz dieser inakzeptablen Haltung die Aufnahme der Migrant_innen immer ausgezeichnet gewesen sei. Die lampedusani gefallen (und gefielen sich schon immer) in der Rolle der Aufnehmenden. Sie hatten immer die noble Rolle, arme Opfer aus der Lebensgefahr zu befreien. Dann wurden sie ausgeflogen, und die hässlichen Dinge wie Identifikation, das Befinden über Ja oder Nein, das Abschieben oder Untertauchenlassen, und vor allem die Anwesenheit der Fremden in ihren Straßen und auf ihrem Arbeitsmarkt, das war ausgelagert. Offshore outsourcing in umgekehrter Richtung: von der Insel auf den Kontinent. Das wurde mir heute deutlich vor Augen geführt: wenn die Fähre da ist, besteht eine Verbindung zum Festland. Die Insel bekommt eine vorübergehende Brücke, und das wird neben der bereits beschriebenen Euphorie auch als nicht zu unterschätzende Gefahr gesehen. Das ist wohl ein Merkmal von Insularität, wo das Familiäre Sicherheit bedeutet und wo dem Außen alle Eigenschaften des Fremden zugeschrieben werden (denn immerhin ist Lampedusa in Italien, in Europa, im Westen), während das Innere homogener gesehen wird, als es tatsächlich ist.
Fast Winter
Seit heute Morgen sitzen wir in Lampedusa fest, weil der aliscafo [das Tragflächenboot, Anm. des Autors] und die Fähre nicht fahren. Bereits gestern hatte Aldo uns gesagt: »Es kommt Wind auf. Ich glaube, ihr werdet noch eine Weile hierbleiben.« Natürlich war uns klar, dass man damit in Lampedusa immer rechnen muss, aber im Sommer passiert es selten, dass sowohl das Tragflächenboot als auch die Fähre nicht anlegen. Für ein paar Minuten denken wir an unsere Termine und Verpflichtungen zu Hause, aber in Lampedusa verlieren sie schnell an Bedeutung. Man ist gezwungen, sich dem Meer zu ergeben.
Mit dem Wind kühlt es auch etwas ab. Obwohl das Treiben des Tourismus nicht abgenommen hat – man sieht jetzt sogar im Gegenteil mehr Menschen auf den Straßen, weil keine Boote auslaufen können – ändert sich die Stimmung. Es scheint, als sei für die lampedusani die Unterbrechung des Kontaktes mit dem Außen eine willkommene Abwechslung, ein Verschnaufen. Die Tourist_innen, die meist mit dem Flugzeug auf die Insel kommen, scheinen davon keine Notiz zu nehmen.
Ein Paar aus Rom, Mitte 30, nimmt mich in ihrem Mietauto mit. Sie sind zum ersten Mal in Lampedusa, aber es gefällt ihnen nicht. Sie sind enttäuscht, weil alles so chaotisch ist. »Ja, das Meer ist wunderschön, das Wetter, die Spiaggia dei Conigli [der Strand der Kaninchen, das touristische Wahrzeichen der Insel, Anm. des Autors], aber es gibt keine Organisation: keine Spazierwege, das Mietauto ist alt, man kann nichts machen außer am Strand liegen.« Sie werden nicht wiederkommen. Ich denke an den Rhythmus des Winters, an den die momentane Isolation erinnert, und bin froh, dass ich dieses andere Lampedusa zuerst kennen gelernt habe.
Am zweiten Tag, an dem wir festsitzen, treffe ich Aldo auf der via Roma. Er sitzt mit einem Arbeitskollegen und einem Freund vor der Bar Isola delle Rose. Ich setze mich dazu und trinke einen Kaffee mit ihnen. Sie reden über Insularität – das ständige Sprechen über die Identität schafft natürlich auch Identität, das ist ein Spezifikum der Inseln und überhaupt jener Orte, die sich in ihrer Position bedroht oder unsicher fühlen – und der Freund erzählt, dass er Lampedusa vor 15 Jahren verlassen hat. Er arbeitet jetzt als Elektriker in Rom, aber ein Insulaner sei er immer noch. Jeden Sommer kommt er her. »Ich schreibe jedes Mal Gedichte hier.« Aldo und der andere bestätigen, dass er »ein Poet« sei. In Lampedusa geben viele – vor allem Männer – an, Gedichte zu schreiben. Abgesehen von Hans Magnus Enzensbergers Feststellung, dass es mehr Leute gibt, die Lyrik schreiben, als solche, die sie lesen, begünstigt die Konstruktion von Insularität: die Vorstellung, aus dem Eigenen schöpfen zu müssen (und zu können). Vielleicht ist es das, was die Anthropologin Giulia meint, wenn sie davon spricht, dass jede/r Insulaner_in eine eigene Insel auf einer Insel sei.
Hier sitzen wir in der improvisierten Fußgängerzone auf der via Roma und es ist wieder wie im Winter: Es gibt genug Zeit, zu plaudern, so als gäbe es keine Tourist_innen. Die lampedusani scheinen das Ausbleiben der Fähre tatsächlich zu brauchen, so wie es Tino beschrieben hatte: Es handelt sich um den identitären Diskurs des Verlassenseins, aber zugleich auch der (temporären) Freiheit von der Hektik des Festlandes, die mit den Schiffen (mehr als mit den Flugzeugen) – wenn auch in abgeschwächter Form – auf die Insel übergreift.
Am Morgen des vierten Tages holt uns Aldo ab. Der aliscafo fährt heute vielleicht wieder – der Kapitän entscheidet das sehr kurzfristig – es wäre gut, dann im Hafen zu sein. Tatsächlich können wir an Bord gehen. Das Meer ist aufgewühlt, das Boot fällt in jedes Wellental. In Linosa steigt eine Gruppe junger italienischer Sunnyboys zu. Als das Boot ablegt, wimmern sie bei jeder Welle. Ein paar Frauen, deren Kindern ganz tapfer sind, schauen sie strafend an, bis sie still sind. Wenige Minuten nach dem Ablegen in Linosa hangelt sich ein Matrose wankend durch die Reihen und verteilt wortlos Plastiktüten.
Einige werden seekrank. Wir halten uns gut an den Lehnen fest, konzentrieren uns auf den trivialen Actionfilm, der gezeigt wird und überstehen die Fahrt unbeschadet. Erst kurz vor Sizilien beruhigt sich das Meer. Unter diesen Umständen ist Sizilien eine Ewigkeit entfernt.
Literaturverzeichnis
Lefebvre, Henri/ Régulier, Catherine (2001 [1986]): Versuch der Rhythmusanalyse der Mittelmeerstädte, Kassel 2001 (=Essai de rythmanalyse des villes méditerranéennes, Peuples Méditerranéens 37, 5-16).
Odasso, Laura/ Proglio, Gabriele (2018): General Introduction, In: Proglio, Gabriele/ Odasso, Laura (Hg.): Border Lampedusa. Subjectivity, Visibility and Memory in Stories of Sea and Land, Cham, 1-12.
Reckinger, Gilles (2013): Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas, Wuppertal (3. Aufl. 2015).
Reckinger, Gilles (2016): Lampedusa. Incontri ai confini d’Europa, Milano – Udine.
Reckinger, Gilles (2018): Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa, Wuppertal (2. Aufl. 2019).
Reckinger, Gilles (2020): Arance Amare. Un nuovo volto della schiavitù in Italia, Milano – Udine.
Rhythmusanalytische Überlegungen zur Insel Lampedusa
Gilles Reckinger
»Lampedusa is many things to many people« (Odasso/ Proglio 2018)
1. Kartierungen
Lampedusa ist die Mitte des Mittelmeers, und das ist keine Frage einer eurozentristisch verstellten Perspektive. Von hier ist es fast gleich weit nach Gibraltar wie nach Beirut, nach Sfax wie nach Catania. (Im Gegensatz zu seiner Nachbarinsel Linosa, mit der es eine Gemeinde bildet, liegt Lampedusa jedoch auf der afrikanischen Kontinentalplatte, somit jedenfalls nicht in Europa, zu dem es nur politisch und auf der Ebene der imaginaires gehört.)
Lampedusa ist für Medien, Politik und europäische Öffentlichkeit »die Insel der Bootsflüchtlinge« und daher – seit mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder – in der Mitte der Aufmerksamkeit in Bezug auf die Bootsmigration über das Mittelmeer. (Kaum mehr als Projektionsraum für Phantasmen, und dann wieder komplett vergessen.)
Lampedusa ist die Insel, die anscheinend 1986 nur knapp von Gaddafis Raketen verfehlt wurde und damit zumindest kurzfristig in der Mitte geostrategischer bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen »dem Westen« und »dem Orient« stand. (Auch wenn gerne von der jahrhundertelangen friedlichen interreligiösen Koexistenz auf Lampedusa gesprochen wird, gibt es davon wenig zu berichten. Dass über die Jahrhunderte alle möglichen Mittelmeerreisenden hier vorbei gekommen und wieder fortgefahren sind, darf angenommen werden. Und seit den Schlagzeilen aus dem Jahr 1986 wissen zumindest die Italiener_innen des Festlandes von der Existenz der Insel.)
Lampedusa ist für die fünfeinhalbtausend Italiener_innen, die auf diesem neun Kilometer langen Felsen leben – nein, so gut wie keine Ausländer_innen –, die Mitte ihrer Welt. (Oft wochenlang ausbleibende Versorgungsfähre aus Sizilien inklusive.)
2. Rhythmusanalytische Überlegungen zu Lampedusa
Henri Lefebvres und Catherine Réguliers Ansatz der Rhythmusanalyse (2001 [1986]) setzt an den großen Städten des Mittelmeerraums an. Lampedusa hingegen ist winzig, schert aber auch aus anderen Gründen – für manche vielleicht unerwartet – aus den von Lefebvre/ Régulier beschriebenen mittelmeerischen Gemeinsamkeiten aus. Keine Zitadelle, keine Treppen. Keine baulichen Spuren, die auf historische Begegnungs- und Aushandlungsräume zwischen Nord und Süd, Ost und West hinweisen. Kein einziges bedeutendes historisches Ereignis zwischen der Antike und 1986, und selbst die Frage, ob Gaddafi nun Raketen in Richtung Lampedusa abgefeuert hat oder nicht, ist umstritten. Keine Blütezeit und also kein Niedergang, sondern Langeweile und Stillstand als Dauerzustand. Nur die Erzählung von einem Eremiten, der den religiösen Kult für die vorbeikommenden Muslim_innen und Christ_innen durchgeführt haben soll.
Die Insel ist dennoch oder gerade deshalb außerordentlich geeignet für eine rhythmusanalytische Begehung. Vielleicht, weil sie so klein ist, dass sie, um ein häufig von lampedusani, den Einwohner_innen Lampedusas, benutztes Bild zu zitieren, wie ein kleines Boot auf den Wellen des Meeres tanzend, mal hierhin, dann dorthin getrieben wird, sich in die eine oder andere Richtung neigt und wieder zurück, und immer bleibt ein bisschen etwas übrig, wird mitgenommen und Teil der Insel. In jedem Fall aber aufgrund der gegenhegemonialen Praxen weiter Teile der lampedusani.
Die seit der vom Königreich beider Sizilien organisierte Besiedlung Lampedusas um 1840 – aus strategischen Gründen: die expansionsorientierte Seemacht Großbritannien saß neunzig Kilometer östlich in Malta – führte von Anfang an für die Bevölkerung nicht zum erhofften und vor allem versprochenen Wohlstand. Dass ab 1878 zusätzlich immer mehr Verbannte auf die Insel gebracht wurden, stärkte nicht gerade die Begeisterung für und die Identifizierung mit dem Staat. Die identitären Verarbeitungsstrategien dieser familiären Geschichten bewegen sich heute zwischen Glorifizierung des Pioniergeistes der Vorfahren oder ihrer politischen – oft anarchistischen oder kommunistischen – politischen Orientierung, oder Scham für den – oft nur angenommenen, weil nicht mehr belegbaren – kriminellen oder staatsgefährdenden Makel in der Familie.
Die Abhängigkeit der Insel von Versorgungslieferungen bestand seit den Anfängen der Besiedlung und dauert bis heute an. Die aufgrund der seit 180 Jahren nicht in Gang kommenden ökonomischen Entwicklung erlebte Abwesenheit des Staates fördert in der lokalen Bevölkerung Identitätskonstruktionen jenseits hegemonialer zentralistischer Vorstellungen (Lefebvre/ Régulier 2001, 10) und eine Haltung von Freiheit außerhalb des Staates (Lefebvre/ Régulier 2001, 8), die bisweilen deutlich anarchische Züge annimmt, etwa in der inkorporierten Weigerung sämtlicher lampedusani, sich beim Autofahren anzuschnallen, oder ihrer freien Interpretation von Bauvorschriften, Verkehrsregeln und anderen Gesetzen.
»Wir sind Afrikaner«, hört man immer wieder: so arm wie die Menschen in Afrika, aber nicht so durchtrieben wie die Italiener_innen auf dem Festland, wie mir ein lampedusano erklärte – wobei in Lampedusa Sizilien oft als Referenzort genommen wird: so groß, quasi schon Festland.
Hinzu kommt die Entfremdung von Italien, das in den Augen der lokalen Bevölkerung kontinuierlich Politik auf dem Buckel der Insel macht: etwa über die Art, wie Rom die Verwaltung der Bootsmigration organisiert bzw. instrumentalisiert, oder über die Stationierung von Militärverbänden auf der Insel, aber auch wegen der oft versprochenen und nie umgesetzten steuerlichen Erleichterungen für die Gemeinde. Das distanzierte Verhältnis zu Italien – zu dessen politischer Hegemonie es freilich aktuell keine Alternative gibt – und die exponierte Lage am Rande Europas lässt auch in Lampedusa einen »metastabilen Zustand des Polyrhythmischen« spürbar werden, »einer Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Bewegungen und Tempi, die in Prozessen der langen Dauer geformt wurden.« (Lefebvre/ Régulier 2001, 5)
Die musikalischen Anklänge der Begrifflichkeit Lefebvres und Réguliers legen eine Beschäftigung mit Klängen, Geräuschen – soundscapes – und Takt bzw. Rhythmen nahe.
Auf ersteres einzugehen kann an dieser Stelle kaum geleistet werden, abgesehen von der Erwähnung der Geräuschkulisse der omnipräsenten Mopeds, die Lampedusa unmittelbar einer weit verbreiteten Vorstellung Italiens zuordnen, und der Unüberhörbarkeit jeglicher regulärer Personentransferverbindung von und nach außen (startende und landende Flugzeuge bzw. das dumpfe Dröhnen der Versorgungsfähre), die die ansonsten vorherrschende Stille unterbrechen. Zu letzterem komme ich weiter unten.
Ich möchte im Folgenden drei Ebenen der in Lampedusa relevanten Rhythmen in den Blick nehmen. Beginnen werde ich mit der historisch rezentesten Rhythmisierung durch die Bootsmigration, auch weil die imaginaires um die Insel sich derart macht- und wirkungsvoll in die europäische doxa eingeschrieben haben, dass sich der Blick erst nach der Thematisierung dieses medial vermittelten Notstandsblocks – der doch längst zum strukturellen Dauerzustand geworden ist – auf anderes, möglicherweise Erhellenderes richten kann.
Bootsmigration
Historisch neu ist die Bootsmigration keineswegs, denn sie begann nach und nach in den 1990er Jahren und ist seit zwanzig Jahren eine Realität im Alltag der lampedusani.
Mit dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens begannen sporadisch Boote in Lampedusa anzukommen, aber auch auf den Nachbarinseln, im bis heute medial völlig unbeachtet gebliebenen Linosa, in Pantelleria, Sizilien, aber auch in Kalabrien und sogar manchmal in Sardinien. Die Boote fuhren abhängig von der Ablagestelle dorthin, wo Wind und Wellen sie hintrugen. An den Orten, wo sie ankamen, gab es keine staatliche Infrastruktur, um diese entstehende Realität aufzufangen, also tat es die lokale Bevölkerung.
Viele lampedusani sprechen von dieser Zeit rückblickend positiv, weil es zu realen Begegnungen mit den Bootsmigrant_innen kam und kommen durfte. Die lampedusani nahmen die Leute mit zu sich nach Hause, gaben ihnen zu essen und ein Bett, und am Folgetag oder ein paar Tage später gingen sie mit den Menschen zur lokalen Polizeistation oder zum Zoll, den einzigen Repräsentationsinstanzen des Staates. Von dort wurden die Menschen, meistens mit der regulären Fähre, nach Sizilien und aufs Festland gebracht, wo ihr Aufnahmeverfahren begann. Dies ist sicherlich ein Grund, dass die lampedusani für »die Wahrnehmung der Vielfalt der Rhythmen ›des Anderen‹« sensibilisiert sind. (Lefebvre/ Régulier 2001, 10)
Das Ausmaß der Bootsanlandungen ist abhängig vom Wetter, also zumindest teilweise von der Jahreszeit. Das ist bis heute so. Diese Rhythmisierung der Bootsmigration wird von einigen lampedusani beschrieben, die die jahreszeitlichen Wanderungen der Wale und der unechten Karettschildkröte in einem Atemzug nennen, um zu unterstreichen, dass sie Bewegung im Mittelmeerraum als Normalfall, als etwas Natürliches sehen, das keiner moralischen Bewertung zu unterliegen hat. »Du bist einer, der sich aus diesem Meer rausgerettet hat? Du hast das alles auf dich genommen, um bis hierher zu kommen? Setz dich hin, mach’s dir bequem, ich helfe dir,« formulierte es eine lampedusana (Reckinger 2013, 79/ Reckinger 2016).
In diesem Zusammenhang wichtiger ist aber die Rhythmisierung durch wechselnde mediale Konjunkturen. Erst als in den 1990er Jahren das Phänomen zahlenmäßig bedeutender wurde und die italienische Politik sich dafür entschied, die Bootsmigration in Lampedusa zusammenzuführen, indem Verbände der Exekutive auf die Insel verlegt und ein erstes Lager für die Geflüchteten auf der Insel geschaffen wurde, kamen die Massenmedien auf den Plan. Sie produzierten nun die Bilder, die sich in die imaginaires der Europäer_innen eingeschrieben haben: volle Boote mit aus der Distanz aufgenommenen amorphen, meist schwarzen Gesichtern. Medial verbreitete Bilder, die erstmals in der Lage waren, irreguläre, heimliche, wie es in den romanischen Sprachen oft heißt, Migration darzustellen, herzustellen, urgence im Sinne Foucaults zu vermitteln. Je nach politischer Konjunktur wurden und werden diese Bilder mehr oder weniger regelmäßig in die Wohnzimmer geschickt, und je nach bildlicher Konjunktur werden unterschiedliche politische Maßnahmen gesetzt, wobei – in allen Ländern des globalen Nordens – eine kontinuierliche Verschärfung des Umgangs und eine Degradierung der menschenrechtlichen Lage zu verzeichnen ist.
In den letzten Jahren ist Lampedusa zugunsten einiger griechischer und zuletzt kanarischer Inseln wieder ein wenig aus dem Blickfeld geraten. Diese konjunkturabhängige politische Bedeutung und Instrumentalisierung als Stück Italien und Europa steht im Gegensatz zu Henri Lefebvres und Catherine Réguliers, aber auch zum ethnographischen Zugang, der sich für die Widerständigkeiten des Alltags interessiert. Tatsächlich widersetzten und widersetzen sich die lampedusani, indem sie die Zeit besetzt halten und sich ihr widersetzen (Lefebvre/ Régulier 2001).
Der extrem verlangsamte Alltag auf der Insel kann so tatsächlich als Widerstandsstrategie gelesen werden, wie die nächsten beiden Punkte verdeutlichen. Denn mit der staatlichen und europäischen Orchestrierung des Spektakels der Grenze sind die lampedusani Zug um Zug von der Begegnung mit den Bootsmigrant_innen ausgeschlossen worden. Von der Rettung auf See über die Ankunft im Hafen und die Unterbringung im Aufnahmelager bis zur Verlegung auf das Festland kontrolliert die öffentliche Hand die Prozesse weitgehend lückenlos – eine Entfremdung, die manche lampedusani beklagen. Einerseits fühlen sie sich zu recht von der zum Ehrenkodex von Inselgesellschaften gehörenden Möglichkeit ausgeschlossen, Schiffbrüchigen unmittelbar Hilfe zu leisten. Andererseits erfahren sie, wie Italien und Europa auf dem Rücken der Insel und der Menschen, die hier leben – Einheimische und Geflüchtete – Politik machen, ohne ihre Lebenswelten und spezifischen Bedingungen zu berücksichtigen. Ein lampedusano sagte mir: »Es ist die Invasion der Journalisten, und nicht der Immigranten, denn sie [die Journalist_innen, Anm. des Autors] tragen ihre eigenen Bilder und Vorstellungen hinaus. Ich habe die Bilder im Fernsehen gesehen. Das ist doch nicht Lampedusa. Wenn du herkommst, wirst du nichts von dem, was du dort gesehen hast, wiederfinden. Und nichts von dem, was du hier siehst, kommt im Fernsehen.« (Reckinger 2013, 200/ Reckinger 2016)
Tourismus
Paradoxerweise war der hypothetische Beschuss der Insel durch Gaddafi im Jahr 1986 der Startschuss für den Tourismus in Lampedusa. Quasi über Nacht war der kleine Felsen vor Afrika der italienischen Bevölkerung – bereits damals: medial vermittelt – bekannt geworden. Seither steigen die Zahlen im Tourismus kontinuierlich (zuvor wurde Lampedusa nur gelegentlich von Abenteurer_innen und Hippies aufgesucht). Dabei zeigen sich in der Art und Weise, wie dieser Tourismus organisiert ist, einige strukturell bedingte Aspekte der Misswirtschaft in Lampedusa. Obwohl klimatisch gesehen das ganze Jahr über Tourismus möglich wäre, konzentriert sich der Tourismus auf wenige Monate im Hochsommer, und es handelt sich um ausschließlich bade- und partyorientierten Massentourismus, dessen Steuerung sich auch mangels qualifizierter lokaler Initiativen weitgehend in den Händen von Reiseveranstaltungskonzernen befindet. Fast die gesamte Bevölkerung lebt im Sommer vom Tourismus, und eine/r versucht den/die andere/n mit den immer gleichen Angeboten zu überbieten: Inselumrundungen mit dem Boot, Vermietung von alten Citroën Méhari, Abendessen im familieneigenen Restaurant. Andere, nachhaltigere Aktivitäten werden kaum angeboten. Alle sind rund um die Uhr auf den Beinen, arbeiten, verbreiten Partystimmung, übertönen die anderen. Lampedusa im Sommer ist laut und aufgeregt. Die via Roma, die Hauptstraße des Ortes, wird im Juli und August für den Verkehr gesperrt und zur überfüllten Flanier- und Partymeile umfunktioniert. Bis weit in die Nacht ertönen Popmusik, Stimmengewirr und der Klang der Absätze im Gleichschritt der passeggiata. Mit dem letzten Charterflug im September bricht diese Welt augenblicklich zusammen. Das Schrille und Grelle verschwindet und unmittelbar macht sich die alljährliche winterliche Lethargie breit, mit einer Arbeitslosigkeitsrate von achtzig Prozent.
Infrastruktur
Die für den Alltag der Inselbewohner_innen relevantesten, nicht nur jahreszeitlich bedingten Rhythmisierungen zeigen sich – im Übrigen kontinuierlich seit der Besiedlung Mitte des 19. Jahrhunderts – auf der Ebene der Infrastruktur. Die Elektrizitätsproduktion mittels Dieselgeneratoren ist instabil und regelmäßig fällt der Strom aus. Dann wird Lampedusa zu einem der dunkelsten Orte der Welt. Regelmäßig fallen auch Telefon und Internet aus, wenn wieder einmal das Untersee-Telekommunikationskabel von vor der Insel kreuzenden Fischtrawlern oder den Ankern der sizilianischen Fischerboote beschädigt wurde.
Wichtiger ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass Lampedusa von jahreszeitlichen und der Misswirtschaft geschuldeten Versorgungsengpässen geprägt ist. Da es keine eigenen Wasservorkommen auf der Insel gibt, wird Meerwasser aufbereitet und in die Wasserleitungen eingespeist, zusätzlich zu Süßwasser, das regelmäßig vom Militär mit einem Tankschiff angeliefert wird. Die Versorgungs- und Personenfähre – einige Fischer beschrieben sie als seeuntüchtigen Schrotthaufen – kann bereits bei mäßigem Wellengang nicht mehr im Hafen anlegen, auch wenn sich die Situation inzwischen mit der Anlage eines EU-finanzierten alternativen Anlegepunkts an der dem Wind abgewendeten Seite der Insel geringfügig gebessert hat. Die Fähre bleibt dann oft wochenlang aus, was auch daran liegt, dass die Betreibergesellschaft in den langen Wintermonaten mit dem Betrieb kaum Geld verdienen kann und die meteorologischen Bedingungen oft nur als Rechtfertigung für die Einstellung des Betriebs vorschiebt (allerdings erhält sie für die gesetzlich vorgeschriebene Aufrechterhaltung der Verbindung und trotz der Nichterfüllung dieses Auftrags weiterhin staatliche Subventionen). In diesem Zeitraum kann man beobachten, wie von Tag zu Tag die Produkte in den Geschäften weniger werden und die Obst- und Gemüsehändler_innen nach und nach immer trauriger aussehende Ware anbieten, bis kaum noch frische Lebensmittel zu bekommen sind.
Viele der Lehrer_innen in der einzigen Sekundarschule der Insel wohnen in Sizilien. Wenn die Fähre ausbleibt, fällt oft auch der Unterricht aus, was die ohnehin angespannte Ausbildungssituation auf der Insel noch verschärft. In geringerem Ausmaß ist auch die medizinische Versorgung von der Fähre abhängig. Abgesehen von einem Ärzt_innennotdienst, der immer vor Ort erreichbar ist, kommen Fachärzt_innen ebenfalls von außen auf die Insel, allerdings oft mit dem Flugzeug. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die temporäre Auswanderung der Frauen fürs Gebären bzw. ihrer Babys fürs Geborenwerden ein prägender, von allen geteilter biografischer Einschnitt. Da die medizinische Versorgung unzureichend ist und keine Geburtsklinik vorhanden ist, verlassen Schwangere (in der Regel aus finanziellen Gründen viel zu spät) die Insel, um die letzten Tage, bzw. bestenfalls ein paar Wochen bei Verwandten auf dem Festland oder in Hotels zu verbringen, um sich und ihr Kind nicht zu gefährden. Seit Jahrzehnten werden auf der Insel keine Kinder mehr geboren (außer es kommt eine Bootsmigrantin in den Wehen an).
3. Polyrhythmische Widersprüche atmosphärisch
Ich möchte im letzten Teil meines Beitrags zwei solcher Situationen aus den Jahren 2011 und 2010 beschreiben (siehe Reckinger 2013/ Reckinger 2016). Sie mögen die polyrhythmischen Widersprüche (Lefebvre/ Régulier 2001, 10) und die »Allianz im Kompromiss« (Lefebvre/ Régulier 2001, 9) vielleicht sinnlich erfahrbar machen.
Keine Insel
Normalerweise höre ich jeden Morgen beim Aufwachen das dumpfe, das ganze Dorf erfüllende Dröhnen der Schiffsmotoren: die Fähre hat angelegt. Wenn ich noch schlaftrunken auf die Terrasse trete, erfüllt ihr Dieselgestank bereits die gesamte Umgebung.
Doch seit über einer Woche war die Luft stets klar gewesen, die einzigen Geräusche, die die Insel charakterisierten, waren entfernt beschleunigende Mopeds und zwei Mal am Tag der durchs Dorf brüllende Flieger nach Palermo. Heute Morgen soll die Fähre aber wieder anlegen. Ich beginne, in meiner unmittelbaren Nachbar_innenschaft die Veränderung zu der Zeit davor zu spüren. Wo sonst alles still liegt, nun Stimmen, Aufregung, Autos, Mopeds, alles ist in Bewegung. Auch mich zieht es nun hinaus und in den Hafen, um dem Event der Ankunft beizuwohnen.
Im Hafen angekommen, steht kurz darauf ein italienischer Journalist mit Fernsehkamera neben mir. Er kommt aus Palermo und berichtet für einen Regionalsender. Er ist 56. Er beklagt sich, dass er keine Lust mehr hat, weil er für die Lokalnachrichten immer überall hinfahren muss – meistens eh nur zu Geschäftseröffnungen, Einbrüchen und Theatervorführungen. »Die lampedusani sind uns Journalisten gegenüber sehr ambivalent eingestellt: sie mögen uns nicht, sie wollen nicht, dass über die Flüchtlinge berichtet wird, zugleich wissen sie aber auch, dass es nicht unsere Schuld ist, dass sie hier sind, und dass ja doch irgendjemand darüber berichten muss.«
Es kommt noch ein Kameramann an. Dann kommt ein ganzes Team. Sie scherzen, rauchen und unterhalten sich über Kameratechnik. Ein weiteres Zweierteam kommt an, und ein einsamer Fotograf, später auch ein RTL-Team. Der RTL-Reporter ist sauber frisiert, mit teurer Wachsjacke und teurer Jeans, so, wie man sie im Fernsehen sieht. Später rauchen sie sogar während des Filmens, der Rauch zieht auch vor dem Objektiv vorbei. Das Rauchen symbolisiert ihre Haltung zu ihrer Arbeit: Eine Achtlosigkeit und Ungenauigkeit, die sich nachher in der Qualität der Beiträge niederschlägt und in der Konsequenz in der Meinung, die sie produzieren – und letztendlich dann in der Politik, die diese Meinung nach sich zieht.
Auf einmal kommt ein Anruf, der Chef des größeren Teams sagt: »Los, wir fahren ins centro [das Aufnahmelager für Geflüchtete, Anm. des Autors].« Sie vereinbaren mit einem anderen Kamerateam, dass diese sie anrufen werden, falls Frauen dabei sind. »Das wäre noch schön im Bild.« Dann verschwinden sie.
Als die Fähre ankommt, kommt Leben auf die Mole. Die Einheimischen holen ihre Verwandten ab, machen sich zur Abreise bereit, Geschäftsleute holen ihre Waren ab. Diese andere, alltägliche Seite der Fähre als Schrittmacher der Insel bleibt vom Medienrummel und dem Polizeiaufgebot völlig unberührt. Wenn die Fähre am Dock liegt, ändert sich immer noch schlagartig die Stimmung. Lampedusa ist in diesen Stunden weniger Insel.
Ich verlege mich darauf, zu beobachten, was die Reporter_innen sehen, was sie in den Fokus nehmen. Ein Reporter steht vor dem Namenszug der Fähre und brüllt ins Mikrofon: »Heute um 9.45h läuft die Fähre Palladio der Fährgesellschaft Siremar nach über einer Woche wieder in Lampedusa ein.« Sie drehen mehrere Wiederholungen dieses einen Satzes.
Das Beladen der Fähre dauert immer Stunden. Der Bus des centro bringt Geflüchtete her, die nach Sizilien verlegt werden sollen. Es ist unglaublich viel Polizei da, mehr als jemals zuvor, und jede Menge Journalist_innen, Fernsehteams, Fotograf_innen. Der Bus kommt zwei oder drei Mal. Wieder beobachte ich die Aufregung der Journalist_innen, denn eigentlich gibt es nichts zu sehen: gepflegte Männer, die auch Italiener sein könnten, entsteigen einem Bus und gehen durch ein von der Polizei gebildetes Spalier zur Fähre. Einer ruft den Journalist_innen zu: »Alemania.« Einige winken oder lächeln den Journalist_innen zu. Einige winken zurück. Eine Frau des UNHCR gibt ein Interview. Als die Geflüchteten an Bord sind, zerstreuen sich die Journalist_innen rasch.
Später auf der via Roma treffe ich nur noch zwei Tunesier. Ich frage sie, wieso außer ihnen niemand hier ist: »Wir sind ins centro gerufen worden, viele von uns werden heute nach Sizilien verlegt.« Aber es geht der Polizei offenbar noch um etwas anderes: wenn die Fähre kommt, bekommt die Insel ein Schlupfloch. Dann muss aufgepasst werden, dass niemand entkommt. So erklärt sich wohl das noch erhöhte Polizeiaufgebot im Dorf und an der Mole. Die LKW-Kontrollen an der Fähre waren heute allerdings sehr lax, vielleicht liegen ja Menschen unter den Planen versteckt. Vielleicht hofft das die Regierung sogar auch. Die Journalist_innen produzieren ja schöne Beweisbilder, wie engagiert die Polizei aufpasst. Denn die Obstplantagen Siziliens und Kalabriens brauchen die illegalisierten billigen Arbeitskräfte (Reckinger 2018/ Reckinger 2020).
Nachmittags fahre ich mit dem Moped aufs Land hinaus. Ich überhole mehrere Jogger, wohl Polizisten, sie bringen ihr großstädtisches Leben mit hierher, aber es passt irgendwie nicht her. Sie stehen in Kontrast zu den drei Schäfern, die mit ihren Ziegenherden durch die karge Landschaft ziehen, wie aus einer anderen Zeit.
Am Abend trinke ich einen Kaffee mit einem Aussteiger aus Frankreich. Seit drei Monaten ist er in Lampedusa. Die Insel zieht nicht nur Polizei, Journalist_innen, Tourist_innen und Künstler_innen an, sondern auch Aktivist_innen, Aussteiger_innen und allerlei bunte Vögel (auch Ethnolog_innen wie mich). Er erzählt mir, dass er letztens mit einem Tunesier einen Kaffee trinken gegangen ist. Sie hätten Plastikbecher bekommen, aber die Einheimischen tranken wie gewohnt aus Keramiktassen. Die lampedusani würden das so verlangen, weil sie Angst vor ansteckenden Krankheiten haben. Ich bin wie vom Schlag getroffen. In den Bars, die ich bisher besucht habe, war das nicht so. Eine Jugendliche und die Inhaberin der Bar bestätigen es. »Rassisten«, sagt das Mädchen. Auch die Inhaberin schimpft darüber, aber nachher dreht sie das Ganze doch wieder zurecht, als sie sagt, dass trotz dieser inakzeptablen Haltung die Aufnahme der Migrant_innen immer ausgezeichnet gewesen sei. Die lampedusani gefallen (und gefielen sich schon immer) in der Rolle der Aufnehmenden. Sie hatten immer die noble Rolle, arme Opfer aus der Lebensgefahr zu befreien. Dann wurden sie ausgeflogen, und die hässlichen Dinge wie Identifikation, das Befinden über Ja oder Nein, das Abschieben oder Untertauchenlassen, und vor allem die Anwesenheit der Fremden in ihren Straßen und auf ihrem Arbeitsmarkt, das war ausgelagert. Offshore outsourcing in umgekehrter Richtung: von der Insel auf den Kontinent. Das wurde mir heute deutlich vor Augen geführt: wenn die Fähre da ist, besteht eine Verbindung zum Festland. Die Insel bekommt eine vorübergehende Brücke, und das wird neben der bereits beschriebenen Euphorie auch als nicht zu unterschätzende Gefahr gesehen. Das ist wohl ein Merkmal von Insularität, wo das Familiäre Sicherheit bedeutet und wo dem Außen alle Eigenschaften des Fremden zugeschrieben werden (denn immerhin ist Lampedusa in Italien, in Europa, im Westen), während das Innere homogener gesehen wird, als es tatsächlich ist.
Fast Winter
Seit heute Morgen sitzen wir in Lampedusa fest, weil der aliscafo [das Tragflächenboot, Anm. des Autors] und die Fähre nicht fahren. Bereits gestern hatte Aldo uns gesagt: »Es kommt Wind auf. Ich glaube, ihr werdet noch eine Weile hierbleiben.« Natürlich war uns klar, dass man damit in Lampedusa immer rechnen muss, aber im Sommer passiert es selten, dass sowohl das Tragflächenboot als auch die Fähre nicht anlegen. Für ein paar Minuten denken wir an unsere Termine und Verpflichtungen zu Hause, aber in Lampedusa verlieren sie schnell an Bedeutung. Man ist gezwungen, sich dem Meer zu ergeben.
Mit dem Wind kühlt es auch etwas ab. Obwohl das Treiben des Tourismus nicht abgenommen hat – man sieht jetzt sogar im Gegenteil mehr Menschen auf den Straßen, weil keine Boote auslaufen können – ändert sich die Stimmung. Es scheint, als sei für die lampedusani die Unterbrechung des Kontaktes mit dem Außen eine willkommene Abwechslung, ein Verschnaufen. Die Tourist_innen, die meist mit dem Flugzeug auf die Insel kommen, scheinen davon keine Notiz zu nehmen.
Ein Paar aus Rom, Mitte 30, nimmt mich in ihrem Mietauto mit. Sie sind zum ersten Mal in Lampedusa, aber es gefällt ihnen nicht. Sie sind enttäuscht, weil alles so chaotisch ist. »Ja, das Meer ist wunderschön, das Wetter, die Spiaggia dei Conigli [der Strand der Kaninchen, das touristische Wahrzeichen der Insel, Anm. des Autors], aber es gibt keine Organisation: keine Spazierwege, das Mietauto ist alt, man kann nichts machen außer am Strand liegen.« Sie werden nicht wiederkommen. Ich denke an den Rhythmus des Winters, an den die momentane Isolation erinnert, und bin froh, dass ich dieses andere Lampedusa zuerst kennen gelernt habe.
Am zweiten Tag, an dem wir festsitzen, treffe ich Aldo auf der via Roma. Er sitzt mit einem Arbeitskollegen und einem Freund vor der Bar Isola delle Rose. Ich setze mich dazu und trinke einen Kaffee mit ihnen. Sie reden über Insularität – das ständige Sprechen über die Identität schafft natürlich auch Identität, das ist ein Spezifikum der Inseln und überhaupt jener Orte, die sich in ihrer Position bedroht oder unsicher fühlen – und der Freund erzählt, dass er Lampedusa vor 15 Jahren verlassen hat. Er arbeitet jetzt als Elektriker in Rom, aber ein Insulaner sei er immer noch. Jeden Sommer kommt er her. »Ich schreibe jedes Mal Gedichte hier.« Aldo und der andere bestätigen, dass er »ein Poet« sei. In Lampedusa geben viele – vor allem Männer – an, Gedichte zu schreiben. Abgesehen von Hans Magnus Enzensbergers Feststellung, dass es mehr Leute gibt, die Lyrik schreiben, als solche, die sie lesen, begünstigt die Konstruktion von Insularität: die Vorstellung, aus dem Eigenen schöpfen zu müssen (und zu können). Vielleicht ist es das, was die Anthropologin Giulia meint, wenn sie davon spricht, dass jede/r Insulaner_in eine eigene Insel auf einer Insel sei.
Hier sitzen wir in der improvisierten Fußgängerzone auf der via Roma und es ist wieder wie im Winter: Es gibt genug Zeit, zu plaudern, so als gäbe es keine Tourist_innen. Die lampedusani scheinen das Ausbleiben der Fähre tatsächlich zu brauchen, so wie es Tino beschrieben hatte: Es handelt sich um den identitären Diskurs des Verlassenseins, aber zugleich auch der (temporären) Freiheit von der Hektik des Festlandes, die mit den Schiffen (mehr als mit den Flugzeugen) – wenn auch in abgeschwächter Form – auf die Insel übergreift.
Am Morgen des vierten Tages holt uns Aldo ab. Der aliscafo fährt heute vielleicht wieder – der Kapitän entscheidet das sehr kurzfristig – es wäre gut, dann im Hafen zu sein. Tatsächlich können wir an Bord gehen. Das Meer ist aufgewühlt, das Boot fällt in jedes Wellental. In Linosa steigt eine Gruppe junger italienischer Sunnyboys zu. Als das Boot ablegt, wimmern sie bei jeder Welle. Ein paar Frauen, deren Kindern ganz tapfer sind, schauen sie strafend an, bis sie still sind. Wenige Minuten nach dem Ablegen in Linosa hangelt sich ein Matrose wankend durch die Reihen und verteilt wortlos Plastiktüten.
Einige werden seekrank. Wir halten uns gut an den Lehnen fest, konzentrieren uns auf den trivialen Actionfilm, der gezeigt wird und überstehen die Fahrt unbeschadet. Erst kurz vor Sizilien beruhigt sich das Meer. Unter diesen Umständen ist Sizilien eine Ewigkeit entfernt.
Literaturverzeichnis
Lefebvre, Henri/ Régulier, Catherine (2001 [1986]): Versuch der Rhythmusanalyse der Mittelmeerstädte, Kassel 2001 (=Essai de rythmanalyse des villes méditerranéennes, Peuples Méditerranéens 37, 5-16).
Odasso, Laura/ Proglio, Gabriele (2018): General Introduction, In: Proglio, Gabriele/ Odasso, Laura (Hg.): Border Lampedusa. Subjectivity, Visibility and Memory in Stories of Sea and Land, Cham, 1-12.
Reckinger, Gilles (2013): Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas, Wuppertal (3. Aufl. 2015).
Reckinger, Gilles (2016): Lampedusa. Incontri ai confini d’Europa, Milano – Udine.
Reckinger, Gilles (2018): Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa, Wuppertal (2. Aufl. 2019).
Reckinger, Gilles (2020): Arance Amare. Un nuovo volto della schiavitù in Italia, Milano – Udine.