Versuch einer Rhythmusanalyse der Mittelmeerstädte*
Henri Lefebvre und Catherine Régulier
Diese Arbeit ist Teil einer umfassenderen Studie oder die Einführung dazu. Die Mittelmeerstädte verblüffen und überraschen durch ihre je eigenen Charaktere. Wir versuchen, einzelne allgemeine Züge von ihnen freizulegen, trotz ihrer Unterschiede und Vielfalt. Es geht allerdings um die größten Städte, die alle historische Städte mit oft bis in die griechische Antike zurückreichenden Ursprüngen sind. Wie die meisten historischen Städte auf der Welt sind sie entweder dem Verfall preisgegeben oder dem Ausufern in Suburbia und Peripherie. Uns scheinen jedenfalls die historischen Züge im Mittelmeerraum dauerhafter als anderswo, und das mit einer bemerkenswerten Macht. An diesem Beharren, diesem Fortbestand sind unseres Erachtens die geschichtlichen wie die heutigen »lebensnächsten« Rhythmen unseres Erachtens nicht unbeteiligt. Zumindest ist die Frage es wert, gestellt zu werden
Man kann die städtischen Rhythmen nicht verstehen ohne eine allgemeine Theorie über diese Rhythmen, aber nicht nur sie allein: Es bedarf einer Generaltheorie, die wir »Rhythmusanalyse« nennen.1 Diese Analyse der Rhythmen, in ihrer ganzen Breite »von den Partikeln zu den Galaxien« hat einen transdisziplinären Charakter. Sie stellt sich unter anderem zur Aufgabe, das Wissenschaftliche möglichst wenig vom Poetischen zu trennen.
Auf diese Weise können wir versuchen, das Porträt einer geheimnisvollen Person zu zeichnen, die in den Straßen einer großen Stadt am Mittelmeer mit ihren Gedanken und Empfindungen, ihren Eindrücken und ihrem Staunen herumgeht; wir nennen sie die »Rhythmusanalytikerin»2. Sie ist empfänglicher für die Zeiten als für die Räume, für die Stimmungen als für die Bilder, für die Atmosphäre als für die Einzelereignisse; sie ist weder Psychologin noch Soziologin, weder Anthropologin noch Ökonomin im engeren Sinne; sie nähert sich aber nach und nach diesen Fachgebieten und benutzt deren spezielle Instrumente. Im Rahmen dieser verschiedenen Disziplinen pflegt sie ein transdisziplinäres Vorgehen. Sie lauscht, hört aber nicht nur Worte und Sprechen, Geräusche und Töne; sie kann ein Haus hören, eine Straße, eine Stadt, so wie man eine Symphonie oder eine Oper hört. Natürlich will sie in Erfahrung bringen, wie diese Musik komponiert ist, wer sie spielt und für wen. Sie würde vermeiden, eine Stadt mit einem einzelnen subjektiven Merkmal zu beschreiben, wie etwa ein Schriftsteller New York mit dem Heulen der Polizeisirenen charakterisiert oder London mit dem Stimmengewirr und den Kinderschreien auf den Squares. Aufmerksam für die Zeit (und das Tempo) und folglich für die Wiederholungen wie für die Abfolge von Unterschiedlichem in der Zeit, hält durch eine Gedankenbewegung auseinander, was als Ganzes erscheint: nämlich die Rhythmen und ihre Verbindungen. Sie beobachtet nicht nur menschliche Aktivitäten, sondern vernimmt und versteht3 die Zeitordnungen, in denen diese Aktivitäten stattfinden. Sie kann gelegentlich eher eine Ärztin oder eine Analytikerin werden, die die funktionellen Störungen in Begriffen der rhythmischen Dysfunktion oder der Arhythmie untersucht – oder zum Dichter Apollinaire, der sagen würde:
»Oh, meine Bekannten
Es reicht mir, den Klang ihrer Schritte zu hören
Um für und für sagen zu können, wohin sie gegangen sind.«4
Wenn die Rhythmen erlebt werden, können sie nicht analysiert werden. Beispielsweise verstehen wir die Beziehung zwischen den Rhythmen nicht, deren Zusammenwirken unseren Körper ausmacht: das Herz, die Atmung, die Sinne, usw. Wir erfassen keinen von ihnen einzeln, außer wenn wir krank sind. Um einen Rhythmus zu analysieren, muss man aus ihm hinaustreten. Die Äußerlichkeit, das Außenstehen, ist nötig; und um einen Rhythmus zu erfassen, muss man zugleich von ihm erfasst sein, muss man sich »innerlich« der Zeit, die er rhythmisiert, hingeben und ganz überlassen. Ist es nicht gleich wie in der Musik oder im Tanz? Auch um eine Sprache und deren Rhythmus zu verstehen, muss man einen scheinbar paradoxen Grundsatz respektieren. Man hört nur die Töne oder Frequenzen, die man selbst beim Sprechen erzeugt – und umgekehrt kann man nur das hervorbringen, was man hören kann. Man nennt das eine Schlaufe…
Beobachtet man aufmerksam eine Menschenmenge zu Stoßzeiten und hört ihrem Summen zu, wird man in der scheinbaren Unordnung Fließlinien entdecken, eine Ordnung, die sich in Rhythmen äußert: zufällige oder beabsichtigte Begegnungen, rasches Auftauchen und lässiges Herumirren von Leuten, die von zu Hause weggegangen sind, um mit dem Draußen in Kontakt zu kommen, Geschäftsleute und unbeschäftigte Leute, so viele Elemente, die eine Polyrhythmie erzeugen. Die Rhythmusanalytikerin versteht es, auf diese Weise einem Platz zuzuhören, einem Markt, einer Straße.
In der sozialen Praxis, in der wissenschaftlichen Erkenntnis und in der philosophischen Spekulation trennt eine alte Tradition Zeit und Raum, als wären sie zwei Einheiten oder klar unterschiedene Substanzen. Und dies, obwohl die zeitgenössischen Theorien, die einen Zusammenhang zwischen der Zeit und dem Raum aufzeigen, beziehungsweise sagen, wie die eine stets relativ zum anderen steht. Trotz dieser Theorien fährt man in den Sozialwissenschaften damit fort, die Zeit in erlebte Zeit, gemessene Zeit, geschichtliche Zeit, Arbeitszeit und Freizeit, Alltagszeit usw. zu zerstückeln, die man dann meist außerhalb ihrer räumlichen Zusammenhänge behandelt. Nun haben die konkreten Zeiten Rhythmen oder sind vielmehr Rhythmen – und aller Rhythmus setzt den Bezug einer Zeit zu einem Raum voraus, bezeichnet eine lokalisierte Zeit oder, wenn man es so nennen will, einen temporalisierten Ort. Der Rhythmus ist stets an diesen oder jenen Ort gebunden, an seinen Ort, sei es das Herz, das Augenaufschlagen, die Bewegung einer Straße oder das Tempo eines Walzers. Das hindert nicht, dass es eine Zeit ist, das heißt ein Aspekt einer Bewegung und eines Werdens.
Bleiben wir bei der Relativität der Rhythmen. Sie lassen sich nicht messen, wie man die Geschwindigkeit eines bewegten Gegenstands auf seiner Bahn misst, von einem klar definierten Ausgangspunkt (Nullpunkt), mit einer ein für alle Mal definierten Einheit. Ein Rhythmus ist nur langsam oder schnell im Verhältnis zu anderen Rhythmen, mit denen er in einer größeren oder kleineren Gesamtheit verbunden ist. Zum Beispiel einen lebenden Organismus – unseren eigenen Körper – oder auch einer Stadt (freilich ohne dass wir sie damit als biologischen Organismus verstehen). Darum unterstreichen wir die Vielfalt der Rhythmen, ihrer Verbindungen und ihre Interaktionen oder gegenseitigen Wirkungen.
So ist jede mehr oder weniger belebte Einheit, und umso mehr jede Ansammlung von solchen Gegenständen polyrhythmisch, das heißt aus verschiedenen Rhythmen gebildet, von denen jeder Teil, jedes Organ oder Funktion, die ihren eigenen Rhythmus in einer fortgesetzten Interaktion hat, ein Ensemble oder ein Ganzes bildet. Das letzte Wort meint nicht ein geschlossenes Ganzes, sondern im Gegenteil ein offenes Ganzes. Solche Ensembles sind stets in einem »metastabilen« Gleichgewicht, das heißt stets gefährdet und wieder aufgefangen, außer, es trete eine tiefgreifende Störung oder Katastrophe ein.
Noch ein wichtiger Punkt: Die Rhythmen beruhen auf Wiederholungen und lassen sich als Bewegungen und Differenzen in der Wiederholung definieren. Nun gibt es zwei Formen der Wiederholung: die zyklische und die lineare. Sie sind untrennbar, selbst wenn die Analyse sie unterscheiden und trennen muss. So unterscheiden die Mathematiker klar die zwei Bewegungstypen, Rotationen und Bahnen, und haben für diese beiden verschiedenen Maße. Die zyklische Wiederholung wird am Beispiel von Tag und Nacht, Stunden und Monaten, Jahreszeiten und Jahren sofort verständlich. Und die Gezeiten! Das Zyklische ist im Allgemeinen kosmischen Ursprungs; es wird nicht auf die gleiche Art gemessen wie das Lineare. Die dafür geeigneten Nummerierungen sind vorzugsweise duodezimal, auf der Grundlage der Zwölf: die zwölf Monate des Jahres, die zwölf Stunden des Zifferblattes, die 360 Grad des Umkreises (ein Mehrfaches der Zwölf), die zwölf Sternzeichen des Tierkreises und sogar die Zwölfzahl der Muscheleier, was andeutet, dass die Zwölfzahl sich über die Lebewesen erstreckt äußert. Die zyklischen Rhythmen, alle mit einer festgelegten Periode oder Frequenz, sind auch Rhythmen des Wiederbeginnens: des Zurückspringens, das sich dem Werden nicht entgegenstelle, können wir in Abwandlung eines Ausdrucks von René Crevel sagen.5 Die Morgendämmerung ist stets neu. Das Lineare dagegen definiert sich durch die Abfolge und die Reproduktion eines Gleichen, ganz oder nahezu identischen Phänomens in mehr oder weniger kurzen Intervallen; beispielsweise einer Reihe von Hammerschlägen, einer repetitiven Abfolge von stärkeren und schwächeren Schlägen und auch die Pausen in regelmäßiger Folge. Das Metronom ist ebenfalls ein Beispiel dafür. Der lineare Rhythmus entstammt im Allgemeinen menschlichen und sozialen Tätigkeiten, besonders den Arbeitsabläufen. Er ist der Ausgangspunkt alles Mechanischen. Das Lineare baut auf die Identität des Wiederholten und seine Rhythmen neigen dazu, sich zu allem Werdenden querzustellen. Nach Crevel stellt sich das Wiederkehrende dem Werdenden in den Weg. Das Lineare einschließlich der Linien, Bahnen und Wiederholungen wird gemäß diesem Schema dezimal gemessen (im metrischen System). Wenn sich nun das Zyklische und das Lineare klar unterscheiden, muss die Analyse, die sie getrennt hat, wieder zusammenfügen; denn sie wirken unaufhörlich zusammen und bedingen einander sogar gegenseitig, indem das eine als Maß des anderen dient. Beispiel: soundso viele Arbeitstage.
Was wird die Rhythmusanalytikerin nach diesen Vorbemerkungen über die Mittelmeerstädte sagen? Sie ist gehalten, betonen wir das nochmals, die Relativität der Rhythmen im Auge zu behalten. Jede Rhythmusstudie ist notwendigerweise vergleichend. Wir beginnen deshalb damit, einzelne Kontraste zwischen den Mittelmeerstädten und den Atlantikstädten6 zu skizzieren. Letztere werden von den kosmischen Rhythmen der Gezeiten beherrscht – von Mondrhythmen! Die Mittelmeerstädte aber liegen an einem Meer (fast) ohne Tiden; daher hat dort die zyklische Zeit der Sonne den Vorrang. Mondstädte an den Ozeanen? Sonnenstädte um das Mittelmeer herum? Warum nicht?
Aber die Küsten des Mittelmeers sind nicht einförmig. Jede und jeder weiß, dass sie sich bezüglich Bevölkerung, Ethnien, Geschichte, besonderer Merkmale in Wirtschaft und Kultur, Religion unterscheiden. Wie sollte man nicht das östliche und das westliche Mittelmeer auseinanderhalten, Ägäis und Adria, das zu Europa gehörende nördliche Mittelmeer und das südliche, afrikanische? Immerhin, das Mittelmeer selbst verleiht diesen Städten etwas Gemeinsames, da es ein relativ kleines, abgeschlossenes und begrenztes Meer ist. Alle, die es irgendwann befahren haben, wissen, dass die Wellen des Mittelmeers nicht mit denen des Atlantiks vergleichbar sind; eine simple, aber wesentliche Kleinigkeit, denn die Wellen haben und sind Rhythmen. Auch das Klima scheint eine gewisse Gleichförmigkeit zu schaffen: Um das ganze Mittelmeer herum findet man den Ölbaum, die Weinrebe, usw. Die Mittelmeerhäfen ihrerseits sind von den Handelsbeziehungen geprägt, die an den Anfängen der griechischen Zivilisation standen. Die Ressourcen der meisten dieser Städte aus ihrem Hinterland sind begrenzt. Die Industrialisierung hat nur zögernd und ungleich stattgefunden: Sie scheint die Gepflogenheiten des Austauschs und der Lebensweisen nicht tiefgreifend verändert zu haben. Auf dieser Grundlage des begrenzten Austauschs haben sich sehr früh Machtverhältnisse und politische Mächte eingestellt, die versuchten, die Stadt zu beherrschen, indem sie den Raum beherrschen. Diese Mächte haben sich des Raumes als eines Mittels der Kontrolle bedient7, als eines politischen Instruments – und tun das noch heute.
Die Küsten des Mittelmeers haben vor rund zweieinhalbtausend Jahren den Stadtstaat hervorgebracht; dieser beherrscht ein im Allgemeinen kleines Territorium schützt aber einen Handel, der so weit als möglich hinausreicht. Im Handel ist der materielle Austausch stets mit einer außerordentlichen Geselligkeit verbunden, aber auch und paradoxerweise mit Piraterie, Plünderung, Rivalitäten in Seekriegen, Eroberungen und Kolonisierungen. Züge, die sich bereits in Homers Odyssee finden. Die Mittelmeerstädte sind deshalb politische Städte, aber anders als die am Atlantik gelegenen Städte. Der Staat, der eine Stadt und ihr Gebiet beherrscht, ist zugleich gewalttätig und schwach. Er schwingt dauernd zwischen der Demokratie und der Tyrannis hin und her. Man könnte sagen, dass er zur Arhythmie neigt; durch seine Eingriffe in das Leben der Stadt befindet er sich im Herzen der Stadt, aber dieses Herz schlägt auf eine zugleich brutale und diskontinuierliche Weise. In der Stadt ist das öffentliche Leben hauptsächlich auf den Austausch aller Art ausgerichtet: materiell und nicht materiell, von Dingen und Worten, Zeichen und Waren. Wenn einerseits der Austausch und der Handel sich nie auf den nur ökonomischen und monetären Aspekt reduzieren lassen, so hat es anderseits das städtische doch selten Leben ein politisches Ziel – außer bei Aufständen. In dieser Art von öffentlichem Leben stehen die Menschen nicht in Beziehungen zueinander, die aus den nördlichen Städten Gemeinschaften mit Eiden, Verträgen, Urkunden gemacht haben; so dass jede Handlung beständig bürgerlich und politisch wurde. Man muss diesen grundlegenden Unterschied zwischen den großen, unabhängigen Mittelmeerstädten und den freien Städten Flanderns, Deutschlands, Nordfrankreichs und Europas unterstreichen. Die großen Mittelmeerstädte scheinen schon immer unter der Notwendigkeit zu Kompromissen zwischen den politischen Mächten gelebt zu haben und noch zu leben. Ein solcher »metastabiler« Zustand entspricht dem Polyrhythmischen. Man kann die Allianzformel des Kompromisses nicht überbetonen, die sich historisch von der »Eidgenossenschaft«8 unterscheidet. Dieser geschichtliche Unterschied wirkt bis in unsere Epoche fort und beeinflusst unseres Erachtens die Rhythmen der Städte.
Ohne daraus nun eine vollständige Theorie entwickeln zu wollen und lediglich als Hypothese geben wir diesen Beziehungen zwischen den Städten, und vor allem der Häfen, noch vor den Beziehungen zwischen den Häfen mit dem Raum und der (kosmischen) Zeit, mit Meer und Welt, eine große Bedeutung: mit dem, was diese Städte durch die Vermittlung des Meeres mit der Welt verbindet. Wenn es stimmt, dass die Mittelmeerstädte Sonnenstädte sind, darf man ein intensiveres Stadtleben als in den Mondstädten erwarten; diese wäre reicher, auch an Kontrasten und Widersprüchen. Demgegenüber sind in den nordischen atlantischen Städten geregeltere Zeiten zu erwarten, die an verpflichtendere, mehr desinkarnierte und abstraktere (eher vertragliche als rituelle) Formen der Vergesellschaftung gebunden sind. Zum Atlantik hin und im Norden überlassen ihr die Mitglieder der Stadtgemeinschaft, in die sie als Personen und mit ihren Tauschbeziehungen eingebunden sind, einen großen Teil ihrer Verfügungsgewalt und damit ihrer Zeit. Demgegenüber verwaltet die politisch-staatliche Macht am Mittelmeer den Raum, beherrscht die Territorien und kontrolliert, wie wir bereits sagten, die Außenbeziehungen, ohne die Städter-Bürger daran hindern zu können, über ihre Zeit selbst zu verfügen und in der Folge über die Aktivitäten, die diese rhythmisieren. Unsere Analyse lässt uns verstehen, dass im Mittelmeerraum, der Wiege des Stadtstaates, der Staat, gleichgültig ob in der Stadt oder außerhalb, immer brutal und machtlos ist – gewalttätig, aber schwach – vereinend, aber stets erschüttert, bedroht. Während der Staat und das Politische die Atlantikstädte mit weniger Schwierigkeiten und folglich weniger Gewalt und Dramen durchdrungen haben, haben sich diese Städte tief in die individuellen und gesellschaftlichen Aktivitäten eingemischt. Die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, und damit zwischen dem Äußerlichen und dem Inneren (Intimen) findet überall dort statt, wo es eine politische und zivile Gesellschaft gibt, aber sie hat stets ihre spezifischen Ausprägungen. Vorstellung und Wirklichkeit der Trennung von Öffentlichem und Privatem sind nicht überall gleich. Konkreter: Es sind nicht die gleichen Dinge, die man versteckt wie die, die man zeigt und die draußen sichtbar werden.
Wenn unsere Hypothese zutrifft, sind die Sozialbeziehungen in den nordischen Städten im Alltagserleben und in der Praxis auf eine vertragliche und damit rechtliche Grundlage gestellt, das heißt auf gegenseitigen guten Glauben. Dagegen neigen die Beziehungen im Mittelmeerraum dazu, heimliche oder ausdrückliche Allianzen zu gründen, die bis zur Herausbildung von Clans (Klientelismus, Mafia usw.) führen; oder, im Gegensatz dazu, in der Verweigerung von Allianzen, die in den offenen Kampf (Blutrache usw.) übergehen. Die Erklärungen durch die ältere Geschichte oder durch das Überdauern bäuerlicher Bräuche erscheinen uns ungenügend, um die Dauerhaftigkeit und das Wiederaufkommen dieser gesellschaftlichen Beziehungen zu erklären. Codes funktionieren dauerhaft, mehr oder weniger stillschweigend, mehr oder weniger rituell; sie organisieren, sie rhythmisieren die Zeit und die Beziehungen. Das sind nicht im engeren Sinne rationelle Gesetze, für alle annehmbar oder angenommen, die die Beziehungen steuern. Das Wort »Code« hat hier nicht die Bedeutung, die sie im Norden und anderswo annimmt; überhaupt führen wir es ein, um ein Ensemble von Gesten zu bezeichnen, von Konventionen, von Daseinsweisen. Die Kodierung wird mit dem Ritual vollständig, und umgekehrt.
Allianzbeziehungen und Allianzverweigerungen sind für die Rhythmusanalytikerin in dem Masse interessant, als sie in der Produktion der sozialen Zeit wirksam werden. Sie befinden und entfalten sich im Innern der sozialen Zeit, zu deren Produktion (oder Reproduktion) sie beitragen, indem sie ihr einen Rhythmus aufprägen. Unsere Hypothese lautet daher, dass jeder soziale, kollektive Rhythmus von den Formen der Allianzen bestimmt ist, die sich die menschlichen Gruppierungen geben. Diese Formen sind vielfältiger und widersprüchlicher als man gemeinhin annimmt, besonders in den großen Städten, wo Klassenbeziehungen und Machtverhältnisse (aber nicht nur diese allein) im Spiel sind.
Äußert sich die charakteristische Mehrdeutigkeit der Mittelmeerstädte dem Staat gegenüber in den Rhythmen des gesellschaftlichen Lebens? Vielleicht muss die Rhythmusanalytikerin das Geheimnis der Rhythmen rund um das Mittelmeer suchen, wo alte Codes und feste Riten überdauern. Tatsächlich haben die Riten einen zweifachen Bezug zu den Rhythmen. Jede Ritualisierung erschafft ihre eigene Zeit und ihren Sonderrhythmus, jenen der Gesten und feierlichen Worte, der in einer bestimmten Abfolge vorgeschriebenen Handlungen; aber sie schafft auch die Riten und Ritualisierungen, die in die Alltagszeit eingreifen und diese skandieren. Das geschieht vorwiegend im Verlauf der zyklischen Zeit, zu festen Stunden, Daten oder Anlässen. Halten wir fest, dass es mehrere Arten von Rhythmen gibt, die das Alltägliche skandieren:
a) Die religiösen Riten, ihr Eintreten ebenso wie ihr Eingreifen ins Alltagsleben; beispielweise das Fasten, das Beten, die Waschungen, der Ruf des Muezzins, das Betläuten und anderen Glockenzeichen, usw.
b) Die Riten in einem weiteren Sinne, zugleich heilige und weltliche, wie die Feste und die Fastnachten, die eine Periode einläuten oder beenden, interne oder nach außen gerichtete Geselligkeitsriten.
c) Schließlich die politischen Riten, darunter die Zeremonien, die Gedenkfeiern, die Abstimmungen, usw.
Wir belegen mit diesem Etikett alles, was in den Alltag eingeht, um ihm einen außeralltäglichen Rhythmus aufzuprägen, ohne ihn dadurch aber aufzuheben. Die Analyse dieser vielfältigen Rhythmen gestattet unseres Erachtens zu bestätigen (?), dass die Beziehung des Städters zu seiner Stadt (seinem Quartier) – namentlich im Mittelmeerraum – sich nicht in der soziologischen Beziehung des Individuums zur Gruppe erschöpft. Sie teilt sich auf in: einerseits die Beziehung des Menschenwesens zu seinem eigenen Körper mit seiner Sprache und seinem Sprechen, mit seinen Gesten an einem bestimmten Ort und einem Ensemble von Gebärden; und anderseits eine Beziehung mit dem weitestmöglichen öffentlichen Raum, mit der gesamten Gesellschaft und über diese hinaus mit der Welt.
Hier findet eine Hypothese ihren Platz und wird präziser. Die Erzählanalyse unterscheidet zwei Arten von Ausdruck: Der eine ist formell, rhetorisch, frontal – der andere unmittelbarer, spontaner. Desgleichen kann die Analyse der sozialen Zeit zwei Arten von Rhythmen unterscheiden. In Anlehnung an die von Robert Jaulin in seiner Theorie der Beschreibung vorgeschlagenen Begriffe nennen wir sie: »der Rhythmus des Selbst« und »der Rhythmus des Anderen«9. Der Rhythmus »des Anderen« bestünde demnach in den nach außen, auf ein Publikum hin gerichteten Aktivitäten. Man kann sie auch »Repräsentationsrhythmen« nennen; sie sind auferlegt und formalisiert und entsprechen dem frontalen Ausdruck. Die Rhythmen »des Selbst« ihrerseits sind an tiefer eingeschriebene Riten gebunden und organisieren eine mehr zum Privatleben hin gerichtete Zeit, bilden so die Selbstpräsenz als Gegensatz zur Repräsentation und fügen zu den Formen der Rede die Formen des stilleren, intimeren Bewusstseins hinzu.
Dieser polare Gegensatz kann die vielfältigen Übergänge und Überlappungen zwischen den Extremen nicht verdecken: das Zimmer, die Wohnung, das Haus, die Straße, der Platz und das Quartier, schließlich die Stadt – oder auch die Kernfamilie, die Großfamilie, die Nachbarschaft, der Freundeskreis und die Siedlung. Das Selbst und das Andere sind nicht voneinander getrennt. Die Untersuchung des Raums der islamischen Städte zeigt diese Überlappungen, die Entsprechungen und komplexen Übergänge zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten10. Am körpernächsten findet sich die Unterscheidung der zwei Arten von Rhythmen bis in die Gesten hinein, im Benehmen und in den Gewohnheiten; es reicht vom Alleralltäglichsten (der Art zu essen, zu schlafen) zum Höchstaußeralltäglichen (der Art zu tanzen, zu singen, Musik zu machen, usw.). Das Außeralltägliche rhythmisiert das Alltägliche und umgekehrt. Das Lineare und das Zyklische lassen sich ebensowenig wie die Rhythmen »des Selbst« und die Rhythmen »des Anderen«, der Präsenz und der Repräsentation, voneinander trennen. Sie durchdringen einander, durchdringen die Praxis und sind von dieser durchdrungen. Das scheint uns für alle Räume und Zeiten zu gelten, städtische und nichtstädtische. Was wäre nun daran besonders bei den Mittelmeerstädten? Uns scheint, dass in diesen der Stadtraum, das heißt der öffentliche Raum, zum Ort einer umfassenden Inszenierung wird, wo sich alle Beziehungen mit ihren Rhythmen zeigen und entfalten. Riten, Codes und Beziehungen werden dort sichtbar; sie führen sich auf. Dabei hat die Menschenleere einer Straße um vier Uhr nachmittags einen ebenso starken Ausdruck wie das Wimmeln auf einem Platz während der Markt- oder Begegnungszeit. In der Musik wie in der Dichtung haben die Pausen eine Bedeutung.
Ist das nicht ausgesprochen der Fall von Venedig? Ist diese Stadt nicht eine Bühnenstadt, um nicht zu sagen eine Stadt-Bühne, wo Publikum und Schauspielerinnen in der Vielfalt ihrer Rollen und Beziehungen zusammenfallen? Man stellt sich so das Venedig Casanovas vor, jenes des Senso von Visconti11, und das heutige Venedig. Wäre das möglich, wenn nicht in diesem Raum einer privilegierten Form von Bürgerlichkeit und Freiheit freier Lauf gelassen würde, dank und in einer Dialektik der Rhythmen? Diese Freiheit besteht nicht darin, eine freie Staatsbürgerin zu sein – sondern in der Stadt außerhalb des Staates frei zu sein. Die politische Macht beherrscht den Raum, oder vielmehr versucht ihn zu beherrschen; deshalb sind die Denkmäler auf den Plätzen so wichtig – wenn aber die Paläste und Kirchen einen politischen Sinn und Zweck haben, so lenken die Bürger-Städte ihn ab; sie eignen sich diesen Raum auf eine unpolitische Weise an. Durch einen bestimmten Gebrauch von Zeit widersteht der Bürger dem Staat. Es findet daher ein Kampf um die Aneignung statt, in dem die Rhythmen eine Hauptrolle spielen. Mit ihnen versucht die gesellschaftliche, bürgerliche Zeit, sich der linearen, einheitsrhythmischen, messend-gemessenen Staatszeit zu entziehen – und es gelingt ihr. So theatralisiert sich der öffentliche Raum, der Raum der Repräsentation; er wird »spontan« Ort der Spaziergänge, Begegnungen, Intrigen, Aussprachen, des Handels und der Verhandlungen. Auf diese Weise verbinden sich mit dem Raum die Zeit und die Rhythmen der Leute, die diesen Raum besetzen.
Die vergleichende Analyse der Stadtrhythmen unterscheidet diese nur, um sie wieder zusammenzubringen. Im vorliegenden Fall konstatiert diese Analyse manchmal Kontraste oder starke Gegensätze, meist aber Nuancen. Die Analyse der spanischen Stadt differenziert offensichtlich jene der islamischen oder der italienischen Stadt. Durch alle Nuancen und Kontraste hindurch werden aber gemeinsame Züge erkennbar. Zur Illustration dieser Behauptung: Rund um das Mittelmeer herum, in welchem Land auch immer, sind viele Städte an Steilufern über dem Meer gebaut worden. In ihnen unterscheidet man eine Unter- und eine Oberstadt: Die Treppe spielt eine wichtige Rolle. Auf eine ganz allgemeine Weise gibt es rund um das Mittelmeer eine bemerkenswerte Treppenarchitektur. Als Verbindung zwischen den Räumen sichert die Treppe auch die Verbindung zwischen den Zeiten: zwischen der Zeit der Architektur (dem Haus, dem Grundstück) und der städtebaulichen Zeit (der Straße, dem Freiraum, dem Platz und den Denkmälern). Sie verbindet die im Stadtraum verteilten Häuser und Einzelbauten. Ist die Treppe nicht lokalisierte Zeit schlechthin? In Venedig rhythmisieren doch die Treppen den Gang durch die Stadt, indem sie als Übergang zwischen verschiedenen Rhythmen dienen? Denken wir auch an die Treppen des Bahnhofs Saint-Charles in Marseille. Für die Bahnreisenden sind sie der unumgängliche – man könnte sagen initiatische – Übergang des Abstiegs in die Stadt, zum Meer. Mehr als bei einer Tür oder einer Avenue auferlegt ihre auffallen wollende Monumentalität Körper und Bewusstsein, von einem Rhythmus zu einem anderen, noch unbekannten – noch zu entdeckenden – zu wechseln.
Wir haben bereits die historisch bedingten Schwächen des mediterranen Stadtstaates unterstrichen. Weder konnten sich jene zu irgendeiner Zeit dauerhaft gegen gemeinsame Feinde verbünden, noch wirksam großen Eroberern und Gründern von Großreichen Widerstand leisten. Der Sieg der Athener über die Perser stellt hier ein Ausnahmeereignis dar. So kommt es, dass von der Antike bis heute viele Großreiche versucht haben, das gesamte Mittelmeer zu beherrschen und zu umfassen12. Alle Eroberer haben die Städte eingenommen, aber die Städte haben widerstanden. Wie und warum? Unseres Erachtens durch die Zeiten und Rhythmen. Dies unterstreicht den beständigen und dauerhaften Charakter der Zeiten im Mittelmeerraum im Vergleich zum politisch beherrschten Raum.
Noch einige Bemerkungen zum Tourismus, einer inzwischen wesentlichen Erscheinung der Moderne, die auf sonderbare Weise die historische Problematik der Eroberungen fortführt. Auch hier tritt ein Paradox auf: Der Tourismus tritt zu dem traditionellen und gewohnten Gebrauch von Raum und Zeit hinzu, zu der Monumentalität und den Rhythmen »des Anderen«, ohne ihn zum Verschwinden zu bringen. Beispielsweise in Venedig löst der Tourismus die Bühnenhaftigkeit der Stadt nicht auf: Eher noch verstärkt er sie, selbst wenn er die dramatische Repräsentation als eine Art von Clownerie ausgibt; es gelingt ihm nicht, sie in die Tiefe zu verändern, ihr Prinzip zu verleugnen. Deshalb diese überraschende Tatsache: Auch die traditionsreichsten Städte nehmen den modernen Tourismus an; sie passen sich an, indem sie sich dem Identitätsverlust entgegenstellen, den diese Invasionen mit sich bringen könnten. Das ist ja nicht der Fall nur von Venedig, sondern auch von Syrakus, Barcelona, Palermo, Neapel oder Marseille. Alles Städte, die dem Tourismus ausgeliefert sind und sich entschlossen, sich der Gleichschaltung, der Linearität, den Rhythmen »des Anderen« widersetzen. Der Tourismus kann den Raum entstellen, ohne auf die erlebte Zeit zugreifen und sie ihrer selbst entfremden zu können. Um diese Situation zu verstehen, muss man, wie wir gesehen haben, die ganze Geschichte betrachten. Man muss daran denken, dass die lange Vorherrschaft der kulturellen und handelsmäßigen Beziehungen zu einem Gemisch von Bevölkerungen, zu Wanderungen und Zusammenleben geführt hat. Das verstärkt zum einen die Allianz in Gestalt des Kompromisses, der die Geschichte des Rhythmus in diesen Städten kennzeichnet – und erhält und stützt zum anderen die Sippen. In anderen Worten, feste und dauerhafte Beziehungen sowohl in Konflikten wie in Allianzen. Das weist auf ein weiteres Paradox hin: Wie konnten sich so dauerhafte historische Kompromisse auf einer so stark wertenden, manichäischen13 Grundlage einrichten? Antwort: Sie sind in der Organisation der Zeit und der Rhythmen begründet, eine zugleich private und öffentliche, sakrale und profane, sichtbare und geheime Organisation.
Der Staat und das Politische sind nicht die einzigen, die vom Intimen zurückgewiesen werden aus ihrem Raum durch eine starke Rhythmizität, weggestoßen oder ausgeschlossen – was sie nicht hindert, ebenso stark zu dem zurückzudrängen, was sich ihm verwehrt. Jede Form von Hegemonie und Homogenität wird im Mittelmeerraum verweigert. Nicht nur die Rhythmen eines staatspolitischen Zentralismus werden als Rhythmen »des Anderen« empfunden; die Idee des Zentralismus selbst wird zurückgewiesen, weil jede Gruppe, jede Einheit, jede Religion und jede Kultur sich selbst als ein Mittelpunkt versteht. Was ist ein Mittelpunkt, wenn nicht ein Produzent von Rhythmus in der gesellschaftlichen Zeit? Die Polyrhythmie der Mittelmeerstädte macht ihre gemeinsamen Merkmale durch die Unterschiede deutlich. Ein solches städtisches Handeln wirft eine Frage auf: Wie gelingt es einem jeden (Individuum-Gruppe-Familie etc.), seine eigenen Rhythmen in die der anderen (verschiedenen) einzupassen, einschließlich der verordneten Rhythmen? Welchen Anteil am diesem Einpassen von Rhythmen »des Selbst« in die Rhythmen »des Anderen« haben die klare Abgrenzung und der Kompromiss, die Toleranz und die Gewalt? Die banale, bekannte Tatsache, dass in jeder großen Stadt des Mittelmeerraums jedes Kind mehrere Sprachen zu hören bekommt, kann nicht folgenlos bleiben bezüglich der »spontanen« oder »bodenständigen« Übernahme der verschiedenen Rhythmen – das heißt der Wahrnehmung der Vielfalt der Rhythmen »des Anderen«.
Das Rätsel des tätigen und gesellschaftlichen Lebens wäre demnach wie folgt zu formulieren: Wie sind die Rhythmen »des Anderen« und die Rhythmen »des Selbst« festgelegt, ausgerichtet und verteilt? Nach welchen stadtbürgerlichen Grundsätzen werden Annahme und Verweigerung von Allianzen geregelt? Die Polyrhythmie ergibt sich immer aus einem Widerspruch, aber auch aus dem Widerstand gegen diesen Widerspruch – dem Widerstand gegen ein Machtverhältnis und einen möglichen Konflikt. Ein solches widersprüchliches Verhältnis lässt sich als Kampf zwischen zwei Tendenzen beschreiben: der Tendenz zur Gleichschaltung und jener zur Vielfalt, von denen letztere im Mittelmeerraum besonders stark ist. Man kann es auch anders sagen: Es gibt eine Tendenz zur Allherrschaft der Zentren (Haupt-Städte, beherrschende Länder und Kulturen, Reiche), die die Vieldimensionalität der Peripherien angreift – eine Vielfalt, die ihrerseits andauernd die Einheit gefährdet. In Begriffen der Rhythmusanalyse können wir sagen, es wogt ein Kampf zwischen einer gemessenen Zeit, die auferlegt und äußerlich ist, und einer mehr endogenen Zeit. Wenn es stimmt, dass in der Mittelmeerstadt die Vielfalt sich stets rächt, so gelingt es aber ebenso nie, die gegenläufige Tendenz zur politischen, organisatorischen und kulturellen Einheit zu besiegen. Alles geschieht, als ob der Mittelmeerraum auf das einheitsstiftende Prinzip nicht verzichten könnte, das seine Identität gestiftet hat und erhält; obwohl die Ideologien der Vielfalt sich bis zur Gewaltanwendung den identitären und unitarischen Strukturen widersetzen. Wie sollte man da nicht an Beirut denken…?14
Wenn Macht-Beziehungen die Vorherrschaft über Allianz-Beziehungen erringen, wenn die Rhythmen »des Anderen« die Rhythmen »des Selbst« verhindern, dann bricht die totale Krise aus, mit Außerkraftsetzung aller Kompromisse, Arhythmie, Implosion-Explosion der Stadt und des Landes. Uns scheint, dass Beirut – dieser Grenzfall – nicht ohne Sinn- und Symbolwert ist. Vor fünfzehn Jahren war Beirut der Ort von Kompromissen und Allianzen, die uns heute wie ein Wunder erscheinen: als Ort einer Polyrhythmie, die in einer (scheinbaren) Harmonie verwirklicht wurde.
Diese brutale Arhythmie stellt eine Frage, die das ganze Mittelmeervorhaben betrifft, den Ausblick auf Einheit und Ganzheitlichkeit dieser Weltregion. Bricht ein solches Vorhaben angesichts dieses Dramas zusammen? Es ist nicht an der Rhythmusanalytikerin, sich dazu zu äußern; eher kann sie behaupten, dass die Analyse der Rhythmen nicht unbedeutende Grundlagen zu jeder solchen Fragestellung beitragen könnte.
Das rhythmusanalytische Vorhaben in seiner Anwendung auf das Städtische kann disparat erscheinen, denn es verwendet und verbindet Begriffe und Aspekte, die die Analyse zu oft getrennt stehen lässt, mit der Absicht, sie zu verbinden: die Zeit und den Raum, das Öffentliche und das Private, das staatspolitische und das Intime; es nimmt erst einen bestimmten Blickwinkel ein, dann einen anderen. Es mag abstrakt erscheinen, denn es benutzt (stützt sich auf) sehr allgemeine Konzepte. Wir hätten diese Vorwürfe auch umschiffen und diesen Eindruck gar nicht erst aufkommen lassen können: Entweder, indem wir einen bekannten Ort herausgreifen und sehr genau beschreiben – oder, indem wir uns dem lyrischen Eindruck ergeben, den der Glanz der geschilderten Städte hervorruft. Aber das war nicht unsere Absicht. Dieses Konzept hat sehr unterschiedliche Anfänge: Theorie des Messens, Musikgeschichte, Chronobiologie und sogar kosmologische Theorien. Im Rahmen des Möglichen wollten wir hier einige Hypothesen vorlegen und überprüfen, in der Hoffnung, dass sie von anderen aufgenommen und weiterentwickelt würden. Wir haben versucht, ein Paradigma herauszuarbeiten: eine Liste von Gegensätzen, die ein Ganzes darstellen; anschließend haben wir den spezifisch mediterranen Gehalt dieser Form und die Weise, wie er in die Praxis dieser Gegensätze eingeht, geprüft. Dies hat virtuelle und real eingetretene Konflikte aufgezeigt, Machtverhältnisse, Gefahren des Zerspringens. Das paradigmatische Bild, in Beziehung zur Praxis gesetzt, wurde dadurch dialektisch. Der von den Konzepten gesäumte Weg führt so zu feineren Analysen. Auf, dorthin.
Quelle
‘Essai de rythmanalyse des villes méditerranéennes’, in Peuples Méditerranéens 37 (1986), pp. 5-16.
Wiederabgedruckt in Henri Lefebvre, Éléments de rythmanalyse. Introduction à la connaissance des rythmes (Paris: Syllepse 1992), pp. 97-109.
Übersetzung Justin Winkler, 2001 und 2020. Mit freundlicher Genehmigung von Cathérine Régulier.
1. Siehe Henri Lefebvre et Catherine Régulier, ‘Le projet rythmanalytique’, in Communications 41 (985), p. 191-199.
2. [Anmerkung des Übersetzers: Personnage ist im Französischen männlich, im Deutschen weiblich, was wir dazu benutzen, den Rhythmusanalysten in der Ausdruckweise von Lefebvre und Régulier für alle Geschlechter sprechend, eine Rhythmusanalytikerin sein zu lassen. Wir behandeln den Beitrag ansonsten als historisches Dokument, in das wir nicht mit nachgetragener zeitgenössischer Quelle Geschlechterneutralität eingreifen.]
3. [Anmerkung des Übersetzers: Das französische entend bedeutet je nach Zusammenhang sowohl hören als auch verstehen. Die Autoren machen in einer hier nicht übersetzten Klammerbemerkung deutlich, dass hier beide Bedeutungen zugleich gemeint sind.]
4. Guillaume Apollinaire, ‘Cortège’, in Alcools (Paris: Mercure de France, 1913).
5. [Anmerkung des Übersetzers: Im Französischen ist, in Anführungszeichen, revenant (Zurückkommen) dem devenant (Werden) in lautlicher Assonanz gegenübergestellt: in Abänderung einer Zeile von René Crevel, wie Lefebvre und Régulier anmerken. Der Sprachwitz ist im Deutschen nicht angemessen reproduzierbar.]
6. [Anmerkung des Übersetzers: Im französischen Text stehen die villes méditéranéennes den villes océaniques gegenüber. Da der Unterschied zwischen Mittelmeer und Atlantik gemeint ist, vermeidet die Übersetzung außer bei Mehrzahl das Wort Ozean oder ozeanisch, da etwa mit »Ozeanien« eine unangebrachte Konnotation des Pazifiks einflösse.]
7. Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditérannéen au temps de Philippe II (Paris: Colin, 1949).
8. [Anmerkung des Übersetzers: Im Originaltext: »Commune Jurée«. Vgl. dazu Arved London: »An den Orten, wo das Resultat besonders günstig war, entstand damals die Kommune als Folge einer Art Eidgenossenschaft (conjuratio), den die Einwohner sich gegenseitig leisteten. Sie schworen sich Beistand und Schutz nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch gegen die Übergriffe des Stadtherrn (Seigneur). So erklärt sich die Bezeichnung als commune jurée, die in Nordfrankreich gebräuchlich war.«, Ders.: ‘Die Selbstverwaltung in Frankreich’, in Zeitschrift für Politik 7 (1914), pp. 185-242, hier 188.]
9. Robert Jaulin, Gens du soi, gens de l’autre (Paris: Union générale d’éditions, 1973).
10. Paul Vieille, ‘L’État périphérique et son héritage’, in Peuples Méditéranéens 27-28, avril-sept. (1984).
11. [Anmerkung des Übersetzers: Der Film Senso (1954) von Luchino Visconti, nach der Vorlage von Camillo Boito (1883), wurde in Verona gedreht.]
12. Burhan Ghalioun, ‘Dialectique de l’un et du multiple’, in Peuples Méditerranéens 19, avril-juin 1982.
13. [Anmerkung des Übersetzers: Könnte im Deutschen etwa mit »schwarz-weiß wertend« wiedergegeben werden. Die im Französischen verbreitete Wendung »manichéen« bezieht sich auf den von Mani vertretenen fundamentalen ontologischen Dualismus zwischen Gut und Böse und kann jede dualistische Auffassung bezeichnen.]
14. [Anmerkung des Übersetzers: Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels ist das die Bezugnahme auf den Libanon-Krieg von 1982-1985. Man sagt allgemein, der Libanonkrieg dauerte von 1975 bis 1990, also 15 Jahre.]